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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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mit dem Küssen, dem Fummeln, das mit dem Küssen kommt, dem heißen schweren Atmen, das vom Fummeln kommt? Wessen Freundin war sie gewesen im vorletzten und letzten Schuljahr? Er erinnerte sich dunkel, dass sie mit Lennie Lesher liiert war, dem Läuferstar, der die Meile in fünf Minuten lief, Lennie Lesher mit den eingefallenen aknenarbigen Wangen und den angeklatschten, in Vitalis getränkten Haarwellen. Wie konnte sie ihn, David, so betrogen haben? Oder hatte sie es mit den gesichtslosen Mitgliedern der Band getan? Warum waren sie, David und sie, auseinandergedriftet nach dem Weg durch Olinger in die Region helleren Lichts? Oder war es Nacht gewesen, nach einer Tanzveranstaltung oder einem Basketballspiel, ihr weißes Gesicht mit den starken Brauen und dem raschen Lächeln ein verschwommener Fleck im Dunkel?
    Elizanne
, wollte er sie fragen,
was hat es zu bedeuten, dies Ungeheuerliche, dass wir Kinder waren und jetzt alt sind und nebenan vom Tod wohnen?
Er war damals in dem Alter gewesen, in dem seine Enkelsöhne jetzt waren. Während des Lebenswar er zu der Erkenntnis gelangt, dass es für einen Mann kein besseres Mittel gegen den Tod gibt als eine Frau; aber woher, wollte er Elizanne jetzt fragen, nimmt eine Frau ihr Antidot, ihren kosmischen Trost? Und ist die Wirkung für sie die gleiche?
    Tagelang konnte er ihr Nachbild nicht loslassen, aber nach einiger Zeit würde er es können, das wusste er. Er konnte ihr nicht schreiben und sie nicht anrufen, selbst wenn Mamie oder Sarah Beth ihm ihre Adresse und ihre Telephonnummer gäben, denn es gab Ehepartner, angesammelte Realitäten, Grenzen. Damals hatte es natürlich Grenzen in ihrer Situation gegeben, Unzulänglichkeiten. Er hatte ihr wenig zu bieten gehabt, nur seine Zukunft, in der er seinen Weg machen würde, und das war vage und noch weit weg. Die Fragen, die ihm auf den Nägeln brannten, würden banale Antworten erhalten. Es war ein jugendlicher Flirt, der, wie die meisten, zu nichts geführt hatte.

    «Also, hier sind wir», sagte sie. Die Straßenlampen waren gerade angegangen.
    «Schon!», rief er aus. «Ihr habt ein k-k-klasse Haus.»
    «Mutter hat die Küche nie gemocht. Sie sagt, sie ist düster, die vielen dunkel gebeizten Schränke. Sie möchte, dass wir nach West-Alton ziehn.»
    «O nein! Zieh nicht weg, Elizanne.»
    «Ich will ja auch nicht, weiß der Himmel. Sie meint, dass die Schulen in West-Alton besser sind. Dass die Schüler aus einer besseren Schicht kommen.»
    «Meine M-Mutter hat uns gezwungen, aufs Land zu ziehn, und ich hasse die Gegend.»
    «Du kannst nicht ewig in Olinger bleiben, David.»
    «Warum nicht? Manche tun’s.»
    «Zu dir passt das nicht.»
    Ihr Blick hielt ernst den seinen fest. Ihre Brauen runzelten sich ein wenig. Er erwartete, dass sie sich abwenden und durch die schwere Tür ins Haus gehen würde, aber sie ging nicht. Er sagte: «Ich müsste zur Schule zurück, mein armer V-Vater sucht mich w-wahrscheinlich schon. Es muss nach fünf sein.» Das Licht starb jetzt jeden Tag früher. Es war Oktober; die Platanenblätter verfärbten sich mählich, welkes Braun kroch in ihre Ränder.
    «Sag mir ehrlich», sagte sie schnell, wie zu sich selbst. «Hab ich zu viel geredet? Jetzt eben, beim Gehen?»
    «Nein, hast du nicht. Überhaupt nicht.»
    «Ich tu das immer, wenn ich mich bei jemandem gehenlasse. Ich schnattere. Ich rede immer weiter.»
    «Nein, hast du nicht. Es war, als ob du zu mir singst.»
    Ihr Gesicht war seinem nicht wirklich näher gekommen, aber dass es sich nicht abwandte und sich nicht entfernte, gab ihm das Gefühl, dass es ihm jetzt näher war. Vorsichtig neigte er sein Gesicht zu ihrem hin, ein wenig seitlich, und küsste sie. Ihre Lippen passten sich weich und warm den seinen an; sie drückte ihren Mund leicht in den Kuss, suchte etwas darin. David fühlte sich von einem Strom mitgenommen, der entgegen der Richtung alltäglicher Ereignisse floss, und bekam kaum noch Luft. Er löste den Kontakt und trat einen Schritt zurück. Sie starrten einander an, ihre schwarzen Augen glänzend wie Knöpfe im Licht der Natriumdampflampen inmitten der rastlosen blassen Schatten der halb braunen großen Platanenblätter. Dann küsste er sie abermals, trat in den stillen warmen Raum, um den das Universum sich drehte, dessen Sternenmassen noch nicht sichtbarwaren, der Himmel noch blau über den Straßenlampen. Diesmal war sie es, die zurückwich. Ein Auto fuhr vorbei, mit einem starrenden Gesicht im Beifahrerfenster,

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