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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Abend.»
    Victoria erklärte ihrem Großvater: «Sie bedeuten, dass alle Menschen, die da drin waren, in den Himmel gekommen sind.»
    Bei Tag, von der Terrasse aus, waren die Zwillingstürme des World Trade Center einfach nicht mehr da. Ihre strenge Form, die zweier Kuben, wie von einem Computerbefehl inden Himmel hinaufprojiziert, hatte eindrucksvoll, aber zurückhaltend das altmodische Backsteindickicht von Lower Manhattan beherrscht. Rechteckige Wolken aus Glas und Aluminium, die aus der Silhouette der Stadt weggewischt waren. Sie waren nicht da, aber Dan war da und Gott mit ihm. Die Bekehrung zum Atheismus war ohne Dauer gewesen. Sein Kirchenpfand musste in wöchentlichen Umschlägen übergeben werden; ein Unterausschuss (Immobilien-In standhaltung und -Modernisierung ), dessen Mitglied er war, traf sich auch weiterhin. Die Episkopalkirche, von Bedeutung in Cincinnati, aber nicht evangelikal, bot einen Strom von Thomas Cranmers Worten, in dem der Geist sich verlieren konnte. Dan hätte die freundliche Gemeinschaft gefehlt, das Händeschütteln unter der Gewölbedecke, das verlegene Friedenspenden. Warum die Leute bestrafen mit seinem Nichterscheinen aus Protest gegen etwas, das Gott getan hatte und nicht sie, eine Herde potenzieller Mandanten, für die das regelmäßige gemeinsame Anstimmen des Nizäischen Glaubensbekenntnisses Teil war, und nicht der allergeringste Teil, zurechtzukommen, ihr Bestes zu tun, gute Bürger zu sein? Ihm würde die Versammlung der Gemeinde am Sonntag fehlen, der Geruch nach gewachsten Kirchenbänken und muffigen Kniekissen, die Heizkörper, die nach einer Woche kühlen Nichtgebrauchs an winterlichen Sonntagmorgen klopften, der Geschmack der nach nichts schmeckenden Oblate in seinem Mund.
    Während er dort zehn Stockwerke über der Brooklyn Alley stand (wo die beiden Tiefgaragenwärter in der milden Märzluft wieder vor dem Eingang zu ihrer Garage saßen und Witze machten), schien die ferne Abwesenheit der Türme einen leichten Schatten hinter ihn zu werfen, einenschwachen Schatten, aber untrennbar von seiner Gegenwart – der Preis, könnte man sagen, dafür, dass er lebte. Er lebte und mit ihm, hinter ihm ein schattenhafter Gott. Das menschliche Bewusstsein hatte sonderbare Fähigkeiten. Wie groß auch immer Dinge waren, es konnte sie umfassen, als sei es selbst noch größer. Und es beharrte darauf, aus Dans Leben eine Geschichte zu machen, wie sinnlos verkürzt die Leben anderer – zermalmt in einem Augenblick oder weggerafft vom Kindbett – auch immer gewesen waren.
    Emily und Victoria, seine Nachkommen, seine Billetts zu genetischem Fortbestehen, wagten sich zögerlich hinaus auf die Terrasse, um bei ihm im Freien zu sein. «Erstaunlich», sagte seine Tochter, die versuchte, seine Gedanken zu lesen, «wie das Nicht-mehr-da-Sein einem keine Ruhe lässt. Manchmal sieht man die Türme noch auf alten Plakaten, wenn die Plakatmacher nicht aufgepasst haben oder es ihnen zu viel Mühe war, sie mit dem Airbrush aus dem Hintergrund wegzuretuschieren. Es kommt einem unerlaubt vor. Viele von diesen Yuppie-Filmen und Fernsehserien haben noch eine Aufnahme von ihnen, von SoHo aus photographiert oder von der Staten-Island-Ferry aus oder von wo auch immer, und ich habe gehört, sie sind alle gesammelt worden, auf Band, wie die Küsse in
Cinema Paradiso
. Sie sind zu einer Art Kult geworden.»
    Victoria mischte sich eifrig ein: «Eines Tages, wenn die bösen Männer alle umgebracht sind, stellt man sie wieder
zurück
,
genau
so, wie sie vorher gestanden haben.» Sie gestikulierte angemessen weit und hoch und reckte sich auf die Zehenspitzen.
    Dan neigte dazu, anderer Leute Illusionen zu entkräften, auch wenn er seine eigenen hätschelte. «Ich glaube nicht,dass das sehr vernünftig wäre», setzte er dem Kind auseinander. «Und auch nicht sehr amerikanisch.»
    «Warum nicht amerikanisch?», fragte Emily in aufbegehrendem, vielleicht auch erbittertem Ton.
    Wenn ihre Eltern sich nicht hätten scheiden lassen, wäre ihre eigene Ehe vielleicht haltbar gewesen; sie hatte es mit einem unguten Präzedenzfall zu tun gehabt.
    «Wir machen weiter, nicht wahr?», fragte Dan taktvoll. «Als Nation. Wir versuchen, aus unseren Fehlern zu lernen. Diese Türme waren höher als nötig. Die Araber hatten nicht unrecht, wenn sie sie als Großtuerei empfanden.»
    Hilary, barfuß, lugte aus einer der Penthouse-Türen, wagte sich aber nicht auf die rußigen Fliesen hinaus. Mahnend sagte sie: «Kinder sollten nicht

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