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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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ihre Rippen schmerzten. Vor dem zerkratzten Plastikfenster schwenkte die Erde mit ihren ländlichen Details – ein paar Häuser und Nebengebäude, ein grüner Klecks Wald, eine eingezäunte Koppel, eine einsame Landstraße – über ihr Gesichtsfeld, während es in ihren Ohren knackte und sie begriff: so albtraumhaft es war, dies war real, die Realität unter allem, dieser Sturz in den Schlund der Schwerkraft. Ihr Gehirn war in Wortlosigkeit geworfen; sie hing mit dem Kopf nach unten, und der gequälte Motor neben ihren Ohren ließ alles erzittern. Sie begegnete der Wahrheit, die ihre Eltern, ihr Mann, all die Beschützer ihres langen beschützten Lebens ihr vermittelt hatten: der Pfad der Sicherheit ist schmal, es ist möglich, heruntergestoßen zu werden.
Erbarmen
, gelang es Carolyn deutlich in ihrem hämmernden Kopf zu rufen.
O Gott , hab Erbarmen.

    Dan stand draußen vor dem Apartment seiner Tochter, auf der rußigen gefliesten Terrasse, von der er den ersten Turm hatte kollabieren sehen. In den sechs Monaten seither waren die Meldungen dazu angetan gewesen, seine Erkenntnis zu erhärten. Eine wahnsinnige Frau stand in Texas vor Gericht, weil sie systematisch ihre fünf Kinder ertränkt hatte. Katholische Priester hatten, wie offenbar wurde, ihre noch kindlichen Schutzbefohlenen in einem Ausmaß sexuell belästigt,das größer war, als man sich je vorgestellt hatte oder als bereits eingestanden war. Fast jede Woche ermordeten irgendwo in den Vereinigten Staaten wütende oder verzweifelte oder amoklaufende Väter ihre Frauen oder Exfrauen und ihre Kinder und brachten sich dann in einem inadäquaten Wiedergutmachungsversuch selber um. In der Zwischenzeit war in Afghanistan der Krieg ausgebrochen und hatte den üblichen Zoll an sinnlosen Toden gefordert – kollidierende Helikopter, verirrte Bomben, falsche Informationen, ein tödliches Durcheinander, ohne die biblische Erhabenheit der Rache oder des Selbstopfers. Die führenden Köpfe des Bösen entkamen; die Feinde, die sich ergeben hatten, wirkten erschöpft und verwirrt – klägliche kleine Fische. Sie beschwerten sich über das Klima auf Cuba und das Versagen ihrer Gefangenenwärter, sie mit sympathisierenden Mullahs zu versorgen. Sie bestanden – und andere halfen ihnen in schrillen Tönen dabei – auf ihren internationalen gesetzmäßigen Rechten. Religiöse Gemetzel fanden in Indien und Israel statt, Feuer, Fluten und Epidemien anderswo. Die Welt taumelte weiter und spuckte Tod und Schmerzfunken aus wie eine entgleiste Lokomotive.
    Seine jüngere Enkeltochter, mit ihm Zeugin der meistverbreiteten aller kürzlichen Katastrophen, informierte Dan feierlich, dass alle Hunde in New York City blutige Pfoten hätten, weil sie in den Trümmern nach toten Menschen suchten.
    Emily, die zähe Überlebende einer Scheidung, hatte das Kind nicht davon abgehalten, sich aus den Zeitungen und dem Fernsehen so viel zusammenzusuchen, wie sie nur konnte. «Sie ist eine richtige Nachrichtenkrämerin geworden», erklärte sie trocken. «Hilary dagegen», fuhr sie fort, «hat sich von Tag eins an geweigert, irgendwas damit zu tunzu haben. Das sei nicht
ladylike
, fand sie, und hat alles verächtlich abgelehnt. Sie sagt, so was sei für Kinder nicht angemessen. Aber für Vicky wär’s nicht gut gewesen, Daddy, wirklich, sie von etwas abzuschirmen, das jeder wusste, worüber alle ihre Schulkameraden redeten. Schließlich, verglichen mit Kindern in Bosnien und Afghanistan, geht’s ihr doch noch recht gut.»
    «Nicht
alle
Hunde, Victoria», versicherte Dan seiner Enkeltochter. «Nur ein paar, die für eine bestimmte Spezialaufgabe ausgebildet sind und kleine Lederstiefelchen tragen, die nette Leute für sie gemacht haben. Die meisten Leute sind sehr nett», sagte er.
    Das Kind starrte kampflustig zu ihm auf, ein bisschen skeptisch, aber doch bereit zuzustimmen. In den sechs Monaten war sie gewachsen; ihre Augen, ein durchsichtiges blasses Blau unter langen geraden Ponys, hatten mehr subtile Ausdrucksmöglichkeiten. In bestimmten Momenten, besonders wenn sie grübelte, konnte er sehen, wie in der kindlich zarten Vollkommenheit ihres Gesichts sich die Keime femininen Mysteriums und reifer Schönheit regten.
    Lucille, in Hörweite, sagte, sodass das Kind es mitbekam: «Vicky ist so interessiert an
allen
Entwicklungen. Sie weiß, dass das furchtbare Durcheinander jetzt fast aufgeräumt ist, und die beiden blauen Scheinwerfer sind als Mahnmal da, wir sehn sie jeden

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