Die Tränen meines Vaters
dem der Pendlerverkehr donnerte. Nur wenige Passanten hasteten mit Regenschirmen vorbei. Auch durch die Lesebrille inspiziert, bot die Karte keinen Anhaltspunkt, wo er sich befand. Granada hatte mehr von einer Metropole, als das Lied vermuten ließ. Ein dunkelhäutiger Bettler, vielleicht ein Zigeuner-Taschendieb, der die magere Beute, die er an einem Regentag machen könnte, ausließ, plierte ihn spöttisch aus dem Eingang einer geschlossenen Bank an. Brad war zu stolz und zu kummervoll zufrieden mit seinem durchnässten, einsamen Zustand auf diesem Pilgergang obskurer Sohnesfrömmigkeit, um nach dem Weg zu fragen. Sein Instinkt riet ihm, bergauf zu gehen, zurück in Richtung des seinen Blicken entzogenen Hotels, wo Leonora verzweifelt wartete. Um ihretwillen ging er schließlich zu einem Zeitungskiosk und fragte die Verkäuferin:
«Por favor, señora, donde está la catedral?»
Sie machte eine brüske Handbewegung und gab die ungeduldige Auskunft:
«Derecho»
, was entweder rechts oder geradeaus bedeutete. Klamm trottete er weiter und sehnte sich nach dem liebevollen Anstacheln der Zunge seiner Geliebten.
Fast wäre er an der Kathedrale, deren kahle Seite sich unauffällig in die säkularen Fassaden fügte, vorbeigegangen. Er trat durch eine kleine Tür, die sich nah dem Altar öffnete. Es gab sehr viel mehr Besucher, als er an diesem scheußlichen Tag vermutet hätte, einschließlich mehrerer Busladungen Japanerin durchsichtigen Plastikregenhäuten. Die liegenden Denkmale der Katholischen Könige waren leicht zu finden, wenn auch schwer zu betrachten, denn sie lagen hoch über dem Boden des Mittelschiffs auf pompösen Marmorsarkophagen. Brad schloss sich einer Schlange von Japanern an, die offenbar wussten, wo es langging, und fand sich auf einer Treppe, die in die Krypta unter den Sarkophagen führte. Dort standen in einem kleinen Gewölbe, hinter Gittern, auf Armeslänge entfernt, fünf einfache schwarze, spielzeugartige Bleisärge, die die Überreste von König Ferdinand, Königin Isabella, ihrer beider gemütskranken Tochter Johanna und Johannas untreuem Gemahl Philipp dem Schönen von Burgund enthielten – Philipp starb mit achtundzwanzig, und seine Witwe behielt den Sarg mit dem einbalsamierten Leichnam jahrelang in ihrem Schlafgemach –, und im kleinsten der sechseckigen Bleikästen lag der Staub eines Kindes, das in den Reiseführern nicht vorkam, wohingegen sehr wohl darin vorkam, dass Johannas Gemütskrankheit ihrer Fruchtbarkeit keinen Abbruch getan hatte: zwei Kaiser und vier Königinnen konnten sie für sich als Mutter beanspruchen, und ihr krankes Gemüt flackerte durch Generationen von Habsburgern.
Was, fragte Brad sich, hatte seine eigene Mutter auf die Idee gebracht, sich in einem Werk ihrer Phantasie mit diesen frommen, unaufgeklärten, beiläufig grausamen Monarchen zu befassen? Sie hatte von Juana la Loca wie von einer liebenswerten exzentrischen Cousine gesprochen und von Ferdinand wie von einem gebieterischen Gatten, den sie selbst nie hatte. Jetzt lag auch sie in einem Sarg, aus Kirsche, unter der Erde, nicht aus Blei in einer Krypta mit niedriger Decke, ihr Körper aber verwandelte sich genauso zum Skelett.In Spanien war ihr Körper zu dick gewesen und in winterliche amerikanische Stoffe gekleidet, sodass sie, wie Brad sich erinnerte, stark schwitzte und ihr Gesicht rosa anlief bei den langen Mittagessen mit ihm und Belinda auf den heißen Gehwegen der Plazas, während sie darauf warteten, dass die Klöster und Kirchen wieder aufmachten; ihre Bifokalbrille beschlug, wenn sie ihre Reiseführer und Notizbücher konsultierte. Aber, tapfere Seele, sie beschwerte sich nie, dass ihr unbehaglich sei oder dass sie die weite teure Reise gemacht habe und nicht finde, was sie suche. Jetzt hatte ihr Geist, der zwar nicht verwirrt war wie der ihrer Cousine Juana, aber gewiss nicht ohne Verschrobenheiten, ihn wieder nach Spanien geführt, und er hatte die arme, nervöse, fragile Leonora mitgeschleift, die nicht einmal dem Wasser aus dem Hahn traute. Er musste netter zu ihr sein, beschloss er, wieder in den Regen eintauchend und zum Hotel zurücksteigend, und dann diesen Fehler nicht noch einmal machen. Er würde die Beziehung beenden, sobald sie wieder in Boston wären. Die Wolken über ihm rissen auf und enthüllten exklamatorische Fragmente von Blau: ein El-Greco-Himmel.
In Madrid, das sie sich für die zweite Woche aufgehoben hatten, wirkte sie gelöster; Madrid kam ihr wie ein imposanteres
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