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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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eckigen goldenen Manschettenknöpfen; französische Manschetten, hatte ihr Schwiegersohn ihr zu erklären versucht, bedeuteten etwas in der Firmenhierarchie. Man durfte sie nur tragen, wenn man eine gewisse Position erreicht hatte.
    Die Motoren keuchten krampfartig, und ein jähes Kippen stieß Carolyns Herz in ihre Kehle hinauf; das Flugzeug wendete. Der große Flügel neben ihrem Fenster lehnte sich in weiter Schräge über die graugrüne Erde. Das Land unten sah jetzt wie Ohio aus, flacher als die Alleghenies, und eine rauchige Stadt war zu erkennen, das konnte Akron sein oder Youngstown. Eine weite Wasserfläche, es musste der Eriesee sein, schimmerte in der Ferne und verriet die Erdkrümmung. Die Sonne schien jetzt auf ihrer Seite des Flugzeugs und fiel in einem Winkel ein, der ihren Augen zu schaffen machte. Eine Operation am grauen Star vor zwei Jahren hatte ihr die hellen Farben und scharfen Konturen der Kindheit wiedergegeben, aber ihre Corneae empfindlich für Sonnenlicht gemacht. Das Flugzeug musste auf dem Weg nach Südosten sein, zurück nach Pennsylvania. Sie versuchte, es genau zu durchdenken, sich die exakte Richtung des Flugzeugs vorzustellen, war aber unfähig zu denken. Sie spürte auf einmal, wie müde sie war. Die Abflugzeit war auf acht Uhr angesetzt gewesen, und das hatte bedeutet, dass sie in Princeton den Wecker auf fünf hatte stellen müssen. Je älter sie wurde, desto früher wachte sie auf, trotzdem war es merkwürdig, im Dunkeln hinauszugehen und das Auto anzulassen.
    Ihre Haut war in Schweiß ausgebrochen. Ihr Körper empfand Angst, ehe noch ihr Verstand folgen konnte. Vor allem eines war in ihrem Kopf: der schlichte Wunsch, inbrünstig genug, um ein Gebet zu sein, dass das Flugzeug, wie ein leicht zerstörbares Spielzeug, aus diesen unsichtbaren Händen genommen werde, die so hektisch, so panisch, so inkompetent mit ihm umgingen.
    Carolyn fragte sich, warum die Jungen da vorn, Hijacker offensichtlich, so viele Passagiere telephonieren ließen; vielleicht dachten sie, sie könnten sie auf diese Weise ruhig halten. Der ohne Bombe kam ein Stück den Gang herunter und kehrte wieder um; warnend hielt er etwas aus Metall hoch, ein kleines Messer, eines, das so eine grausame gebogene Spitze hatte, die sich aufschiebt, wenn man Kartons zerschneiden will, aber seine Augen, die als Einziges von seinem Gesicht zu sehen waren, wirkten entweder verängstigt oder wütend, Lachen aus glühender dunkler Gelatine, schwer zu entziffern ohne den Rest des Gesichts. Sein Geist schien anderswo zu sein, irgendwo jenseits, so viel Weiß, wie seine Augen sehen ließen. Er trug schwarze Jeans und ein langärmeliges rotkariertes Hemd, das ebenso gut das eines jungen Computergenies auf dem Weg nach Silicon Valley hätte sein können – sie hatte zwei Enkelsöhne in Dot-Coms, die zogen sich wie Farmarbeiter an, wie Hippies vor Jahrzehnten, als junge Leute beschlossen, dass sie die Erde liebten, dabei liebten sie vor allem eines, nämlich ihre Eltern zu ärgern – aber dieser Junge trug keine Bleistifte oder Füllfederhalter in seiner Hemdtasche wie ihre Enkelsöhne. Er hat dies kleine Messer und Augenbrauen, die in der Mitte fast zusammenstießen über seinem abwesenden glitzernden Blick. Warum sah er niemandem ins Gesicht? Er war
schüchtern
.Wahrscheinlich war er ein sehr netter Junge, zu Hause, unter Leuten, mit denen er verständlich reden konnte, in seiner eigenen Sprache, ohne Stoff vor dem Mund.
    Wie demütigend, dieser Schweiß, den ihre Unterwäsche aufsog. Wenn sie aus dem Flugzeug stieg, würde sie riechen unter dem Wollkleid, das sie angezogen hatte, weil sie fand, dass es immer kalt war in Tiburon, wo ihre Tochter lebte, ganz gleich, wie heiß es in Princeton war. Die Mammutbäume, die Brisen von der Bay: sie machte sich klar, dass sie heute wohl nicht dorthin gelangen würde. Sie würden auf irgendeinem obskuren Flughafen landen, und es würde zu endlosen Verhandlungen kommen. Allerdings, wenn sie anfingen, Geiseln freizulassen, wäre eine alte Dame unter den ersten.
    Der Kapitän kam wieder über den Lautsprecher: «Wir haben Bombe an Bord, und wir fliegen zum Airport zurück, um unsere Forderungen –» Die nächsten Worte in seiner gutturalen Aussprache verstand sie nicht. «Verhalten Sie sich ruhig, bitte», schloss der Pilot. Auf ihrer Uhr war es 9 : 40. Trotz der Bitte des Kapitäns strudelten Botschaften auf verschiedenen Wegen durch den überfüllten hinteren Teil des Flugzeugs:

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