Die träumende Welt 01 - Der Traumstein
recht.
»Ist das im Sommer immer so?« Arden verstand nicht, wie ein solcher Fluss, der aussah, als sei er schon seit Jahren ausgetrocknet, dieses eindrucksvolle System aus Auffangbecken, Röhren und Abzugsgräben speisen konnte, das er gesehen hatte.
»Nein«, entgegnete Horan. »Er führt allerdings nur das Regenwasser und das Schmelzwasser aus den südlichen Bergen von Mitte Winter bis zum Spätsommer.«
»Aber ...« Arden war zunehmend verwirrt.
»Und er fließt nur jedes zweite Jahr«, erläuterte Horan. »Jedenfalls seit Der Einebnung.«
Arden blieb stehen und dachte nach.
»In dem einen Jahr floss er«, fuhr Horan fort, »und im nächsten war er trocken, letztes Jahr ist er geflossen, jetzt ist er trocken. Nächstes Jahr wird er wieder fließen.« Er klang so sicher, dass Arden nicht auf die Idee kam, zu fragen, woher er das wusste.
»Willst du damit sagen, dass dieses Bewässerungssystem in den letzten drei Jahren aufgebaut wurde?« Ardens Respekt vor den Menschen im Tal wuchs noch ein Stück.
»Es war schon vorher da«, antwortete Horan. »Wir haben es nur ausgebaut.«
»Das ist unglaublich«, sagte Arden und betrachtete das üppige Grün ringsum.
»Manchmal haben wir unsere guten Augenblicke«, antwortete sein Freund.
»Aber warum nur jedes zweite Jahr? Das gibt keinen Sinn.«
»Bei Der Einebnung ist eine Menge geschehen, und es wird lange dauern, bis wir für alles eine Erklärung haben.«
Arden betrachtete das hohe Gebirge im Süden. Irgendwo dort muss die Quelle sein, überlegte er und spürte eine seltsame Regung in seinem Herzen. Dort liegt die Lösung des Rätsels.
Horan sah seinen Blick, sagte aber nichts.
Während dieses ersten Besuches im Tal erfuhr Arden viel Erstaunliches und noch mehr, was sein Gemüt erfreute. Er sah, wie Fletcher im Geäst eines uralten Apfelbaumes herumkletterte, und hatte Mühe, sich das Alter des Mannes vorzustellen. Er war am Namenstag von Dorcas erstem Kind dabei und nahm an der Gemeindefeier teil. Er erfuhr eine Menge über die Farmarbeit - nicht zuletzt, dass es harte Knochenarbeit war. Er lernte sogar, mehr schlecht als recht, das Tanzen. Doch das überwältigendste Erlebnis während all dieser Zeit hatte er bereits an seinem ersten Tag im Tal.
Kurz nach Sonnenaufgang stand er auf und stellte fest, dass im Haus schon geschäftige Betriebsamkeit herrschte. Er setzte sich auf seinen Platz am Frühstückstisch, als hätte er sein ganzes Leben hier gelebt. Obwohl er nur redete, wenn er angesprochen wurde, und man ihm das Essen aufdrängen musste, konnte er nicht anders, er fühlte sich aufgenommen.
Er aß gerade seine dritte Scheibe Brot mit Honig, als Mallory vom Garten hereingeplatzt kam.
»Kris ist da!« rief sie ganz außer Atem und sah Arden dabei an, als warte sie auf eine Reaktion von ihm.
Ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut. Er stand auf und sah sich unsicher um.
»Komm schon!« drängte Mallory und winkte ihn zur Tür. »Er ist extra deinetwegen gekommen.«
»Nun lass den Jungen doch, Mallory«, meinte Elway ruhig. »Er kennt unsere Sitten doch noch nicht.«
Arden ging hinaus in den Vorgarten und wischte sich dabei immer wieder die Hände am Hosenboden ab. Ohne zu wissen, was ihn erwartete, blickte er sich um und sah, wie ein Kind den Garten betrat. Es hatte irgendetwas Merkwürdiges an sich. Als Kris sich zum Haus umdrehte, nachdem er das Gatter verschlossen hatte, musste Arden einen entsetzten Schrei unterdrücken. Es war gar kein Kind, sondern ein Mann, dessen Glieder und Wirbelsäule so entsetzlich verkrümmt waren, dass er nicht größer war als ein Zehnjähriger. Als er näherkam, wirkten seine Beine unkoordiniert und seine Arme wirbelten in alle Himmelsrichtungen, trotzdem kam er gut voran. Unmöglich zu sagen, wohin sein Blick gerichtet war, denn sein Kopf hing vornübergeneigt, als betrachtete er den Boden. Er war barfuß, und seine Kleider waren schwarz und unförmig, so dass er wie eine übergroße verwundete Krähe wirkte.
Arden trat instinktiv einen Schritt zurück und stieß dabei gegen Mallory, die ihn wieder nach vorne schob. Als er sich umsah, stand die gesamte Familie in Reih und Glied hinter ihm. Offensichtlich war ihnen dieses Zusammentreffen wichtig. Was soll ich tun? überlegte er voller Panik. Die kalte Angst, etwas falsch zu machen, krallte sich um seinen Magen, doch das war er gewöhnt, und er schob es von sich. Er drehte sich wieder zu dem näherkommenden Fremden um und wurde ganz von Kris' Kopf in Anspruch
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