Die träumende Welt 01 - Der Traumstein
ihm die Tränen in die Augen schossen.
»Kris sagt, du seist der, den er erwartet hatte«, rief Mallory ihm durch das Getöse zu. »Das bedeutet, dass du bei uns bleiben kannst!«
Arden verstand es noch immer nicht, aber irgendwie war ihm diese Neuigkeit sehr wichtig. Er trat in den Raum.
10. KAPITEL
Nach dieser ersten traumartigen Begegnung sollte Arden Kris nur noch selten treffen, doch er entdeckte seinen Einfluss überall und er sah, dass der Behinderte bei der Gemeinde im Tal ein hohes Ansehen genoss. In jedem Haus hielt man einen Platz am Tisch und ein Bett für ihn bereit, und es galt als besondere Gunst, wenn er auf seinen Reisen von der Gastfreundschaft Gebrauch machte.
Auf allen Gebieten legte man höchsten Wert auf seinen Rat. Fast jeder kannte sich ein wenig mit seiner geheimnisvollen Zeichensprache aus und konnte sich daher mit ihm verständigen, und viele von den älteren Leuten waren darin recht bewandert, so dass sie seine Zeichen gelegentlich selbst untereinander benutzten. Wenn sie über ihn sprachen, begannen ihre Bemerkungen oft mit »Kris meint ...«, ohne sich der Ironie bewusst zu sein, jemanden zu zitieren, der nie ein einziges Wort gesprochen hatte.
Mehr als das war es jedoch die ihm eigene Wärme, die Kris so beliebt machte. Arden hatte sie kurz zu spüren bekommen, als sie sich die Hand gegeben hatten und er in eine seltsame, friedvolle Welt gezogen worden war. Für die Menschen aus dem Tal war dieses Gefühl jedoch von größerer Dauer und erforderte nur seine bloße Anwesenheit. Die Liebe und Hingabe, die Kris auslöste, stand in scharfem Gegensatz zu der Art und Weise, wie Krüppel in der Außenwelt behandelt wurden. Arden hatte gesehen, wie sie misshandelt worden waren, dass sie gefürchtet waren und vertrieben wurden, und er wusste, dass man vielerorts verkrüppelte Babys eher aussetzte, als dass man sich um sie sorgte und sie großzog. Allein Kris' seltsame Augen hätten genügt, um ihn zum Tode verurteilen zu können.
An jenem ersten Tag war Arden voller Fragen gewesen, doch er musste bis zum späten Nachmittag warten, bis einige davon beantwortet wurden. Kris war zu diesem Zeitpunkt trotz des Protestes seiner Freunde bereits aufgebrochen, und Elway und seine Familie hatten wieder Zeit für Arden und konnten ihm wahrheitsgetreu von Kris' bemerkenswerten Fähigkeiten berichten.
Arden beobachtete, wie Kris ins Oberdorf aufbrach, wie seine flatternden Kleider die Unbeholfenheit seiner Bewegungen noch unterstrichen, und staunte über solch verwegene Unabhängigkeit.
»Wird er denn zurechtkommen?« fragte er in die Runde.
»Aber sicher«, rief Mallory.
»Vor Einbruch der Nacht wird er noch an mehreren Häusern vorbeikommen«, beruhigte Elway ihn. »Man wird ihn überall willkommen heißen.«
»Und wenn nicht, kümmern sich die Tiere um ihn«, fügte Mallory überzeugt hinzu.
Elway musste lachen. »Genau«, meinte er. »Ich habe schon gesehen, wie Füchse ihm aus der Hand gefressen haben und Dachse herbeigelaufen kamen, um ihn zu begrüßen.«
Arden atmete tief durch.
»Was ist ... dort hinten passiert?«
Der Farmer drehte sich um und sah ihn an.
»Komm mit, Junge.«
Sie machten sich auf den Weg, vorbei an den Hecken, die sich kreuz und quer über die Farm erstreckten. Ihre Stiefel wirbelten große Pollenwolken auf, und ein Nieser hinter ihnen verriet, dass Mallory ihnen gefolgt war. Elway winkte sie heran, und sie gingen weiter. Der Farmer hatte je einen seiner mächtigen Arme um die Schultern der jungen Leute gelegt.
»War das eine Prüfung?« platzte Arden heraus, der die Stille nicht länger ertragen konnte.
»Natürlich war es das«, sagte Mallory rasch. »Er hat dich kommen sehen, aber bei Neuen will er es immer ganz genau wissen. Er-«
»Langsam, Kind«, unterbrach Elway sie. »Gib dem Jungen eine Chance. Manchmal solltest du dir genauer überlegen, was du sagst. Könnte jedenfalls nicht schaden«, fügte er hinzu. Mallory schwieg, war aber offensichtlich nicht gekränkt.
»Ich brauche dir wohl kaum zu sagen, dass Kris ein sehr außergewöhnlicher Mensch ist«, begann Elway.
Das weiß ich, dachte Arden.
»Ohne ihn wäre das Tal nicht, was es ist. Er verfügt über bestimmte Fähigkeiten ...«
»Er sieht ...« begann Mallory, doch ein Blick ihres Vaters brachte sie zum Schweigen.
»Wir alle hier verfügen zu einem gewissen Teil über diese Fähigkeiten«, fuhr der Farmer fort, »er jedoch ist einzigartig. Ich glaube, auf diese Weise möchte die Natur ihn
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