Die Trantüten von Panem
tot. Ich lasse meinen Blick über die Baumkronen schweifen und halte nach Flaggen Ausschau, sehe aber keine. Was könnte das bedeuten?
Zurück an dem Ort, an dem sich unsere Wege trennten, sehe ich nichts weiter als einige herumliegende Windeln. Es sieht so aus, als ob sie damit ein Tipi bauen wollte. Aber keine Radi weit und breit. Ich muss sie suchen und folge dem Bachlauf. Vielleicht ist sie in einen Korb geklettert und davongesegelt, um dem Schicksal zu entfliehen, Opfer eines brutalen und unterdrückenden Regimes zu werden – so wie der clevere Moses in diesem einen Buch.
Ich pflücke eine Handvoll Beeren von einem Strauch und werfe sie in den Bach. Das soll Glück bringen. Einmal machten sich einige Mädchen über mich lustig, weil ich so abergläubisch bin. Und was hat ihnen das gebracht? Nichts! Ich aber nehme an den Hungerspielen teil!
Ich habe Radi noch immer nicht gefunden und fange an, mir Sorgen zu machen. Nicht nur um sie, sondern auch um mich. Selbst wenn ich die Hauptfigur dieser Geschichte bin, werde ich nie und nimmer die Hungerspiele gewinnen. Ich bin zwar die Erzählerin, aber es sind nur noch gute fünfzig Seiten oder so übrig. Ich gehe schwer davon aus, dass ich auf den nächsten Seiten abtrete und Radi den Faden für mich weiterspinnen wird.
Ich stolpere über eine von Radis Feuerstellen. Sie besteht lediglich aus einigen Zweiglein, aber Radi ist ja auch noch ein Baby. Sie kann nicht weit sein! Ich komme mir wie ihre Mutter vor, obwohl wir uns erst seit wenigen Stunden kennen. Die meisten dieser Stunden habe ich mit Essen verbracht, aber ich musste auch für zwei essen. Meine mütterlichen Instinkte sagen mir, dass Radi noch am Leben ist. Es ist unmöglich, dass sie den Löffel abgegeben hat – nicht in einem Spiel, bei dem es das Ziel ist, alle zu töten. Alle – auch Babys.
Ich verfolge Radis Sabberspur, als diese auf einmal scharf nach links abbiegt und in einer Hecke keine zwei Meter entfernt verschwindet. Da ist sie! Hilflos liegt die Kleine unter einem Gebüsch, und eine Welle mütterlichen Stolzes überkommt mich: Radi muss ihre ersten Schritte getan haben, um es bis hierher zu schaffen!
Mir bleibt keine Zeit, dieses freudige Ereignis gebührend zu feiern. Radi ist in großer Gefahr.
Ich habe den Tribut aus dem Sonnenmilch-Distrikt zuerst nicht bemerkt, da sein dunkler Teint ihm vor den Baumstämmen eine perfekte Tarnung bietet. Doch jetzt sehe ich auch die riesige Heugabel, die er drohend über Radi hält. Er holt aus.
Ich ziehe Pfeil und Bogen, um meine Verbündete zu ver teidigen. »Nicht schießen!«, brüllt der braun gebrannte Tribut wie ein Weichei.
»Ich werde dich nicht erschießen«, erwidere ich – eine clevere Hinhaltetaktik. »Ich will, dass wir Freunde werden.« Der Tribut blickt mich an und lächelt. Während ich ihn weiterhin ablenke, macht sich Radi an seinen Schnürsenkeln zu schaffen und knotet sie zusammen. Dann rieche ich etwas. Radi hat gerade den größten Furz ihres Lebens gelassen.
Der Tribut ringt nach Luft. Er wankt vorwärts und stolpert über seine zusammengebundenen Schnürsenkel. Ich schieße mitten im Sturz einen Pfeil in sein Herz – ein Gnadenschuss, um ihn von seinen unsäglichen Qualen zu befreien. BABAWOMM BABAWOMM .
»Wir haben es geschafft!«, rufe ich Radi zu.
Ein mehr als unpassender Kommentar, denn Radi ist von der Heugabel des fallenden Tributs durchbohrt worden.
»Oh, Radi! Du darfst nicht sterben! Zumindest nicht so!«, rufe ich.
Es gibt keinen Grund, Radi etwas vorzumachen. Sie weiß, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Es ist jetzt an mir, dass sie diese Welt würdevoll verlässt.
Wenn Radi jetzt etwas gefallen würde, dann sind es Blumen. Ich gehe zu einem Beet wunderschöner Pusteblumen, das sich neben einem Baum befindet.
»Gaga.« Mehr sagt sie nicht. Ich liebe es, ihrem Geplapper zu lauschen. Wenn doch nur alle Menschen so sprechen würden. Radi fängt zu weinen an, als ich ihr Blüten in die Augen streue.
»Ich weiß«, beruhige ich sie. »Ich bringe das auch kaum übers Herz.« Mir wird ganz anders, als ich mich an die großartige Zeit erinnere, die wir miteinander verbringen durften. Gestern zum Beispiel war einer der besten Tage meines Lebens. Ich singe Radi ein Wiegenlied.
Als ich das Tal des Todes betrete,
Blicke ich zurück auf mein Leben und merke, wie es in Windeseile an mir vorüberwehte.
Ich habe zu viel gefeiert, zu viel gelacht,
Dass selbst meine Mutter glaubt, es hat mich verrückt gemacht.
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