Éanna - Ein neuer Anfang
Erstes Kapitel
»Ich kann es noch immer nicht recht glauben, dass dort Amerika ist! Es kommt mir wie ein Wunder vor, dass wir zu den Glücklichen gehören, die dem großen Sterben in Irland entkommen sind und diese entsetzliche Schiffsreise über den Atlantik überlebt haben, Éanna«, flüsterte Emily ihrer Freundin zu.
Ihr Blick war auf die Küste gerichtet, die vor ihnen aus der tiefblauen See wuchs und rasch an Konturen gewann; ihre Stimme klang belegt, als kämpfte sie mit den Tränen.
Und das tat sie auch, wie so viele andere der mehr als dreihundert irischen Auswanderer, die sich an Deck der Boston Glory drängten. Sie alle versuchten, so nahe wie irgend möglich an die Reling zu kommen, um einen Blick auf die neue Heimat zu erhaschen.
Nur die Schwerkranken und völlig Entkräfteten waren unter Deck in ihren sargähnlichen Kojen liegen geblieben. Sie fürchteten mit dem Nahen der Küste den Inspektor der New Yorker Quarantänestation.
»Ja, es ist ein Wunder«, erwiderte Éanna, nicht weniger bewegt, und strich sich eine Strähne ihres blonden lockigen Haars aus dem Gesicht, das einen leichten Rotschimmer aufwies und mit dem der Fahrtwind spielte.
Es kam ihr unwirklich vor, dass die Boston Glory an diesem Maitag im weichen Licht des frühen Nachmittags und unter gerefften Segeln auf die amerikanische Küste vor New York zuhielt, auf das Land der Verheißung und der Freiheit, wo auf sie und all die anderen Auswanderer an Bord des Schiffes ein neues Leben wartete. Ein Leben, von dem sie alle hofften, dass es nicht tagtäglich von nagendem Hunger und von der Ausbeutung durch skrupellose Großgrundbesitzer bestimmt wurde so wie in Irland. Es erschien ihr wie ein Traum, das Ziel ihrer Reise endlich erreicht zu haben, und fast fürchtete sie, gleich aus ihm zu erwachen. Aber es war kein Traum, voraus lag wahrhaftig das fremde Land Amerika, das zu ihrer neuen Heimat werden sollte!
Eine Hand legte sich um ihre Schulter und eine Stimme, die sie unter Tausenden erkannt hätte, flüsterte ihr ins Ohr: »Erinnerst du dich noch an Dublin, an den Platz vor der Kathedrale, als wir uns wiedergefunden haben? Es war bitterkalt, aber es war der schönste Tag meines Lebens. Und ich wusste, dass wir das hier einmal erleben würden, Éanna. Wir beide. Gemeinsam.«
Éanna schluckte. Sie konnte nicht antworten, sondern griff nur nach Brendans Hand, um sie festzuhalten, ganz fest.
Was lag nicht alles hinter ihr und dem ungestümen Rotschopf, den sie in ihr Herz geschlossen hatte! Das Elend der jahrelangen Hungersnot in Irland, die sie, Emily und Brendan zu Waisen gemacht und im letzten Winter zu einem Bettlerleben auf der Landstraße gezwungen hatte. Die Unmenschlichkeit im Armenhaus. Ihre Trennung in Dublin und schließlich die qualvoll lange Überfahrt über den Atlantik, während der sie Schiffbruch erlitten und unter menschenunwürdigen Zuständen im Zwischendeck zweier Auswandererschiffe, der Metoka und der Boston Glory , hatten hausen müssen.
Aber fast das Schrecklichste war Brendans übersteigerte Eifersucht auf Patrick O’Brien gewesen und zuletzt ihr Zerwürfnis, das so endgültig gewesen zu sein schien.
Ein Stich durchzuckte Éanna, als sie an Patrick dachte. Ausgerechnet er war es gewesen, dem sie ihre Versöhnung zu verdanken hatten, er hatte Brendan letztendlich davon überzeugt, zu Éanna zurückzukehren, wie schwer es ihm auch gefallen sein mochte. Er hatte es ihretwegen getan, das wusste sie und sie würde ihm auf ewig dankbar sein.
»Woran denkst du, Éanna?«, flüsterte Brendan ihr ins Ohr.
Éanna drehte sich halb zu ihm um und strich ihm schuldbewusst über die Wange. Wie konnte ihr gerade jetzt Patrick in den Sinn kommen?
Das war ihr Moment – ihrer und Brendans. All das, was geschehen war, lag hinter ihnen – und Amerika bot ihnen das, was sie sich so sehnlichst gewünscht hatten.
»An einen neuen Anfang, Brendan«, sagte sie entschieden. »An einen Anfang für uns beide.«
In diesem Moment schallten vom erhöhten Achterdeck Befehle über das Schiff und augenblicklich sprangen Matrosen in die Takelage und enterten auf, um in schwindelerregender Höhe noch mehr Segeltuch einzuholen.
Ein Ruf ging durch die Menge, den Brendan im nächsten Moment aufnahm, während er sich neben Éanna über die Reling beugte.
»Da kommt die Hafenschaluppe mit dem Lotsen, der uns durch die Enge zwischen Staten Island auf der linken Seite und Brooklyn auf der rechten in die Bucht von New York bringt!«, rief er
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