Die Treibjagd
daß sie nicht zur Aufnahme der zarten, modernen Gewänder bestimmt seien. Für seinen eigenen Gebrauch hatte Herr Béraud Du Châtel einige Räume gewählt, die im düstersten Teile des Hôtels, zwischen dem Hofe und der Straße im ersten Stock lagen. Hier befand er sich in einer Umgebung, deren Ruhe und Halbdunkel trefflich geeignet waren, das Sinnen und Nachdenken zu fördern. Wenn er die Türen öffnete und langsam und ernst durch die feierlichen Räume schritt, so hätte man ihn für eines jener alten Parlamentsmitglieder ansehen können, deren Bildnisse man an den Wänden hängen sah und das gedankenvoll nach Hause kam, nachdem es ein königliches Edikt verhandelt und abgelehnt hatte.
In diesem toten Hause, in diesem Kloster gab es aber ein warmes, lebendurchfluthetes Nest, ein Plätzchen, wohin Sonne und Frohsinn Zutritt hatten, einen Winkel, wo helle Kinderstimmen, Licht und Luft ungehindert anzutreffen waren. Nachdem man eine Menge kleiner Treppen emporgestiegen, zehn oder zwölf Korridore entlang geschritten, hinabgestiegen und wieder hinaufgeklettert war, eine förmliche Reise gemacht hatte, langte man endlich in einem geräumigen Zimmer, in einer Art Belvedere an, welches auf dem Dache, hinter dem Hotel, oberhalb des Quai de Bethune erbaut war. Dasselbe hatte eine vollkommen südliche Lage. Das Fenster war so groß, daß der Himmel mit all' seinen Strahlen, seiner ganzen Luft, seinem gesammten Blau durch dasselbe einzudringen schien. Gleich einem Taubenschlag in die Luft hinausragend, war dieser Raum verschwenderisch mit Blumen ausgestattet; auch enthielt derselbe zahllose Vogelkäfige, aber keinerlei Möbelstück. Bloß auf dem Boden war eine Matte ausgebreitet. Dies war das »Kinderzimmer« und unter dieser Bezeichnung war es im ganzen Hotel bekannt. Das Haus war so kalt, der Hof so feucht, daß Tante Elisabeth befürchtet hatte, der von den düsteren Mauern ausgehende kühle Hauch könnte Christinen und Renée schädlich werden. Gar oft hatte sie die übermütigen Kinder ausgescholten, die unter den Arkaden herumtollten und ein besonderes Vergnügen daran fanden, ihre kleinen Arme in das eisige Wasser der Fontäne zu tauchen. Da war ihr nun der Gedanke gekommen, für die beiden Mädchen diesen speicherartigen Raum einrichten zu lassen, den einzigen Ort, wo die Sonne Zutritt hatte und wo ihre Strahlen seit zwei Jahrhunderten fruchtlos die massenhaften Spinnengewebe erwärmten. Dort brachte sie nun die Kinder unter, gab ihnen eine Matte, Blumen und Vögel. Die Schwestern waren entzückt. Während der Ferien lebte Renée hier, in dem hellen Bade dieser wohltuenden Sonne, die ganz erfreut über die ihr gebotene Zufluchtstätte und über die beiden Blondköpfe zu sein schien, die man ihr geschickt. Das Zimmer wurde ein Paradies, in welchem man blos Vogelgezwitscher und das Plaudern heller fröhlicher Kinderstimmen vernahm. Man hatte ihnen dasselbe als ausschließlichen Besitz überlassen. Sie sagten »unser Zimmer«; dort waren sie ganz daheim und sie gingen so weit, daß sie mit dem Schlüssel hinter sich zusperrten, um sich zu überzeugen, daß sie die alleinigen Herrinen daselbst seien. Wie viel Glück bargen diese vier Wände! Und wie viel zerbrochenes Spielzeug beleuchteten die hellen Sonnenstrahlen auf der Matte!
Die höchste Wonne des Kinderzimmers war aber der weite, unbegrenzte Horizont, Wenn man zu den übrigen Fenstern des Hotels hinausblickte, sah man nichts weiter, als schwarze Mauern, die einige Fuß weit entfernt waren. Von hier aus aber sah man die ganze Seine, ganz Paris von der Cité bis zur Bercy-Brücke, platt und endlos, an eine holländische Stadt gemahnend. Auf dem Quai de Bethune gab es halb versunkene Holzbaracken, Massen geborstener Bretter und Balken, zwischen welchen riesige Ratten ihr Spiel trieben, was die Kinder gerne mitansahen, allerdings von der leisen Furcht beherrscht, die schwarzen Tiere könnten an den Mauern auch zu ihnen emporklettern. Darüber hinaus aber begann das reine Zauberland. Der Kohlenabladeplatz mit seinen Eichenbohlen und Strebemauern und die Constantine-Brücke, die leicht und luftig wie eine Spitze unter den Füßen der Passanten sich wiegte, kreuzten sich in einem rechten Winkel und schienen die ungeheure Masse des Flusses zu bannen und zu beherrschen. Gegenüber grünten die Bäume des Weinmarktes und etwas entfernter die des Jardin des Plantes, die sich bis zum äußersten Horizont erstreckten, während auf dem jenseitigen Ufer der Quai Heinrich IV.
Weitere Kostenlose Bücher