Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)
stellte ihn mir auf hoher See vor, wie sein Kopf gleich einem Korken im tiefschwarzen Wasser des Meeres auf- und abtauchte, zu dem sternenübersäten Himmel um Hilfe brüllend, weil ihm ein übergroßes, ungesehenes Meeresungetüm die Zehen einzeln abknabberte.)
An manchen Abenden im Sommer, wenn Vater wenig zu tun hatte und etwas mit uns unternehmen konnte, schlugen wir gemeinsam mit ihm hinter dem Haus ein Lager auf, nachdem Mutter zu Bett gegangen war, lauschten den Nachtschwalben und blickten den Silbermond an, der durch das geschmeidige Geäst der Bäume strahlte.
Vater rauchte braune Zigarillos, die nach Bourbon rochen, und wenn wir ihn lange genug anbettelten, ließ er sich dazu herab, die haarsträubendsten Spukgeschichten zu erzählen, die ich je gehört habe, sogar bis zum heutigen Tag. Geister, sagte er, bevölkerten die Wälder und Wasserwege der Region, weshalb viele Häuser, Gaststätten und Absteigen in unserem geschichtsträchtigen Bezirk verwunschen seien. Wir erfuhren von Ellicott City, einer alten Stadt mit Mühle in Howard County auf sieben ausladenden, schwarzen Hügeln, wo an einem bewaldeten Hang weit oberhalb der Bahnschienen eine längst verlassene, ausgebrannte Nervenheilanstalt stand. Er beschrieb uns den Wendigo so eindrücklich, dass wir angespannt horchten, ob das Wesen nicht irgendwo in der Nähe atmete. Zudem machte er uns weis, ein kleines Mädchen habe aus reiner Gedankenkraft wie in einem Märchen einen Knaben erschaffen, der heute hoch oben in den Wäldern im Norden lebe, wo er sich von Kleintieren und bisweilen auch jungen Menschen ernähre.
Kyle ängstigte sich stets dabei, Adam wurde stets langweilig, ich hingegen bekam nie genug von diesen Geschichten und hätte zuhören können, bis die Sonne wieder über dem Fluss aufging. Nachdem wir alle zu Bett gegangen waren, versuchte ich, Kyle weiter Angst zu machen, indem ich mir eigene Geschichten ausdachte, bis Vaters Kopf als dunkler Fleck in der Tür auftauchte und uns zum Schlafen anhielt.
Dies sind ausnahmslos schöne Erinnerungen. Könnte ich sie bloß einpacken und in einem in Blei gefassten Tresor tief in meinem Hirn hinterlegen, um sie vor äußerer Beeinträchtigung zu bewahren. Und während ich daran dachte, diese Erinnerungen für immer in mir zu behalten, überschatteten die Ereignisse später in jenem Sommer alles andere, korrumpieren seine Schönheit und fransten sie aus wie Flammen, die an Kanten von Fotos züngeln.
Selbst jetzt, zwanzig Jahre später, weiß ich nicht mehr, wie es in jenem Sommer begonnen hatte. Wer war überhaupt zuerst auf den doppelten Steg gestoßen? Adam oder einer seiner langhaarigen, pickligen Freunde? Vielleicht hatten sie durch Klassenkameraden etwas darüber erfahren. So oder so wurde der doppelte Steg entdeckt, und man hätte glauben können, dass wir eine Schatztruhe aus dem Sand geborgen hätten.
Wie ich bereits beschrieben habe, war der Doppelsteg genau dies: ein Anglerpier mit einem identischen Gebilde obendrauf, das mit seinen moosbewachsenen Brettern als Dach des eigentlichen Gehweges fungierte und zudem mit einem Flaschenzug inklusive Winde ausgestattet war. Später erklärte uns einer von Adams Bekannten, dessen Vater ein Fährmann der Küste war, dass der Doppelsteg dazu diente, Boote aus dem Wasser zu hieven, nachdem man sie winterfest gemacht hatte, damit das Fiberglas der Rumpfkonstruktion vom Eis unbescholten blieb. So stimmig das auch klingen mochte, so egal war uns der praktische Nutzen des Stegs: eine erhöhte Plattform, von der wir, wenn es dunkel war, blindlings ins Schwarze sprangen, nicht wissend, wo unten und oben war, ohne Gewissheit, dass wirklich Wasser da war, bis wir die Oberfläche durchbrachen. Nervenkitzel.
Erst nach Kyles Tod erfuhren wir, wem der Steg gehörte – einem grauhaarigen alten Fischer in Gummihosen und Overall, mit einer Haut ledrig wie ein Football und dessen Augen sich in einem chronischen Zucken verengten –, durch das Wohnzimmerfenster konnte ich beobachten, wie Vater
von ihm auf der Straße angesprochen wurde. Er sprach sein Beileid aus und tastete – zumindest nehme ich das rückblickend an – meinen alten Herrn auf eine etwaige Klage ab. Zu einer Klage kam es allerdings nie.
Zuvor war ich dem Besitzer nur einmal begegnet, als Adam, seine Freunde und ich eines Nachts etwas zu laut waren – laut genug, um den alten Vogel aus seinem vermutlich dem Alkohol geschuldeten Tiefschlaf aus dem Sofa zu reißen. Er stürmte mit etwas, das
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