Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)
Spezialarzt behandelt werden müssen.«
»Haben Sie der Familie jemanden empfohlen?«
»Ja«, platzte sie heraus – so schnell, dass sie sogar vor dem Weiterreden Luft schnappen musste. »Ich wandte mich direkt an den Zuständigen auf dem Amt. Bis ich aber den nächsten Schritt wagen konnte, durchkreuzte der Krebs meine Pläne, und ich musste die Stelle aufgeben. Da war es bereits Sommer, eine sehr ungünstige Zeit, um irgendwelche Amtsbeschlüsse durchzudrücken, weil man die Ferien dort genauso auskostete wie unter Schülern, wenn nicht sogar intensiver. Bevor dann das neue Schuljahr begann …«
»War er tot.« Ich konnte die Ereignisse mittlerweile zeitlich treffend einordnen.
»Genau. Ich weiß noch, dass ich in der Zeitung davon las. Der Kleine tat mir furchtbar leid und seine Mutter auch. Sie war selbst eine verlorene Seele. Nicht zuletzt deshalb kamen mir die beiden häufig vor wie zwei Teile eines Ganzen. Mit Makeln behaftete Menschen, die sich vor lauter Angst aneinander klammern, um nicht aus dem Leben zu scheiden, sobald sie einander loslassen.«
Ich nickte. Wie genau sie den Nagel damit auf den Kopf traf, erschütterte mich. »Haben Sie Elijah an jenem Nachmittag weitere Fragen gestellt?«
»Oh ja. Sehen Sie, nachdem ich einmal zu stochern begonnen hatte, konnte ich nicht mehr ablassen.« Sie hob einen Arm und packte mich am Handgelenk, und ich stellte mir vor, wie der Krebs ihr Blut unter der Haut zum Kochen brachte. »Manchmal, wenn man etwas verfolgt, endet das manchmal in einer Jagd.«
Es ist ein Kommen und Gehen , rief ich mir wieder ins Gedächtnis.
»Ich fragte ihn erneut, ob er wirklich krank gewesen sei«, führte sie weiter aus, »doch er starrte mich wortlos an. Also packte ich es anders an, ich fragte ihn, ob er Ärger während der vorigen Tage hatte.« Sie senkte die Stimme, als säßen die Dentmans im Nebenzimmer, und sie wolle nicht belauscht werden. »Wenn man Kindern untersagt bestimmte Fragen zu beantworten, werden sie nur das antworten, was man ihnen eingetrichtert hat. Geht man aber von einem anderen Punkt aus – aus einem Winkel, auf den sie nicht vorbereitet sind –, erhält man die Antworten, die man sucht.«
»Und welche waren das in diesem Fall?«, fragte ich ebenfalls in gedämpftem Ton.
»Er erzählte, sein Onkel habe ihn angeschrien wegen der Tiere. Wegen der Tiere hätte er sich Ärger eingehandelt.«
»Welche Tiere?«
»Die toten«, antwortete sie. Die Aussage ließ mein rechtes Augenlid flimmern. »Er erzählte mir von seinen Schoßtieren. Wie er sie sammelte, wenn er welche im Wald entdeckte, und mit nach Hause nahm. Er erwähnte einen Hasen und ein Eichhörnchen – beide hatte er im Frühjahr auf dem Hof gefunden – aber er hat gesagt, er hätte ihn wegen dem Hund angeschrien. › Er war zu groß und ich konnte ihn nicht verstecken ‹ , sagte er.«
»Der Hund …« Meine Stimme verlor sich.
»Ich hatte keinen blassen Schimmer von dem, was mir der Junge begreiflich machen wollte, und das teilte ich ihm auch mit. Da stand er vom Tisch auf und fragte mich ruhig, ob ich seine Schoßtiere sehen wolle. Er hätte noch einige versteckt, meinte er, und sein Onkel habe sie bisher noch nicht gefunden. Ich stimmte zu, woraufhin er nach oben ging. Dann nahm ich Platz, wobei ich spürte, wie der Krebs wie etwas Lebendiges in meinem Magen rumorte. Die Mutter des Jungen ließ sich während des Unterrichts nie am Tisch nieder, trieb sich aber stets irgendwo in der Nähe herum, man bemerkte sie fast nicht, wie ein Gespenst. Manchmal hörte ich sie auch durch die Wände. Als Elijah endlich zurückkehrte, hielt er einen Schuhkarton vor der Brust. Ich fragte ihn, ob seine Schoßtiere darin wohnten, was er mit einem Nicken bestätigte und die Kiste auf den Tisch stellte. Ich bat ihn, sie öffnen zu dürfen, und er nickte wieder. Sie begreifen sicher langsam, wie eine Konversation mit diesem Kind ablief.«
»Ja.« Ich entsann mich mancher Sendung auf dem Discovery Channel, in der es um verwahrloste Kinder ging, die in den Elendsvierteln europäischer Städte oder südamerikanischen Regenwäldern aufwuchsen und von Hunden großgezogen wurden.
»So schob ich den Deckel vom Karton und sah –«
»Vögel«, nahm ich ihr die Worte vorweg. Fast war mir, als höre ich das Geräusch sich fügender Puzzleteile. »Tote Vögel.«
Althea schaute mich an, als habe ich gerade das Geheimnis unserer Welt zutage gefördert. Dann kniff sie ihre trüben Augen fest zusammen, und einen
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