Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)
mich krankmeldete. Da keine Besserung in Sicht war, quittierte ich den Dienst endgültig. Ich kehrte nie wieder zu dem Haus zurück.«
Ohne Zweifel, Althea Coulter war definitiv eine Hartgesottene, die nichts so leicht erschrecken konnte. Dennoch fragte ich mich, inwieweit der Magenkrebs sie dazu gezwungen hatte, nie wieder zum Haus der Dentmans zurückzukehren, oder ob sie ihn als Vorwand benutzt hatte.
»Wissen Sie vielleicht – ob früher schon jemand einen Vorfall von Kindesmissbrauch meldete?«
»Abgesehen von meiner Andeutung auf dem Amt, etwas Seltsames geschehe in diesem Haus – ich glaube nicht. Und wissen Sie, ich habe den Behörden nie irgendeinen Missbrauch mitgeteilt.« Erneut verengten sich ihre Augen. Ihre Farbe erinnerte an Kerzenwachs, durchzogen von roten Äderchen. »Sie sind mit eigentümlichem Anliegen zu mir gekommen, mein Sohn. Dass Sie das, was dem Jungen zugestoßen ist, nicht für einen Unfall halten, erwähnten Sie bereits, aber können Sie mir auch sagen, was genau Sie hinter alledem vermuten?«
»Ich glaube, er wurde umgebracht.« Die Worte brachte ich selbstsicher und vorbehaltlos heraus, denn Zweifel, die ich bis dato noch gehegt hatte, verflüchtigten sich Stück für Stück. »Ich kann es nicht beweisen, glaube aber, dass sein Onkel es getan hat.«
Die alte Frau zog eine Augenbraue hoch, was beinahe komisch wirkte. »Haben Sie die Polizei schon in eine Theorie eingeweiht?«
»Sozusagen«, erwiderte ich und fing zu grübeln an: Welche Theorie? Ich mache bestenfalls Andeutungen, fische im Trüben und brüte über einem handgeschriebenen, unvollendeten Romanentwurf. Weder gibt es ein Motiv, noch stichhaltige Beweise . »Mein Bruder arbeitet dort, und ich sprach mit ihm darüber.«
»Was hält er davon?«
Ich grinste. »Er meint, ich solle es mir aus dem Kopf schlagen. Angeblich verschwende ich meine Zeit und bewege mich im Kreis, weil ich grundlos auf der Jagd nach etwas bin, das ich zuvor bloß interessiert verfolgt habe, wie Sie es ausdrücken.«
Althea lächelte verschroben, was ihrem vom Sterben gezeichneten Gesicht einen noch finstereren Ausdruck verlieh. Der Tod pustete ihr kalt in den Nacken, und unverhofft erhaschte ich eine Ahnung davon. Es war der abgestandene Geruch der Verwesung, fast süßlich wie bei einer Mumie. Sie verlagerte ihr Gewicht. »Sind Sie mit Ihren Fragen durch?«
»Ja, Ma‘am.«
»Gut, denn ich habe auch eine an Sie«, kündigte sie an, »aber um sie stellen zu können, brauche ich etwas Wasser für meinen trockenen Hals. Im Schwesternzimmer den Flur hinunter gibt es welches. Sind Sie so nett?«
Ich ging hinaus. Hinter den rund aufgestellten Schreibtischelementen saß jetzt eine attraktive junge Krankenschwester mittleren Alters mit dunkelbraunem Teint und gepflegten Zähnen. Ich bat sie um ein Glas Wasser für Althea, und sie wollte es mir geben, fragte jedoch zuerst, ob ich mich bereits als Besucher eingetragen hätte. Ich verneinte, woraufhin sie umso mehr strahlte und mir ein Klemmbrett vorhielt. Daran hing ein Kugelschreiber an einem Stück Faden. Aus Gründen, die mir bis heute verborgen blieben, hinterließ ich mein Pseudonym Alexander Sharpe in Druckbuchstaben und gab ihr das Teil zurück.
»Fairer Tausch«, bemerkte die Schwester, nahm das Brett entgegen und reichte mir dafür eine halbvolle Wasserkanne von Tupperware sowie einen kleinen Plastikbecher, auf den jemand mit wischfestem Stift die Initialen des Krankenhauses geschrieben hatte.
Zurück im Zimmer, füllte ich den Becher und hielt ihn Althea hin, die wie ein Kind mit beiden Händen zugriff. Ich schaute ihr ein wenig beklommen zu, weil ich damit rechnete, dass sie sich entweder besudelte oder jeden Moment verschluckte, aber nichts von beidem geschah.
»Ahhh«, seufzte sie, nachdem sie den Becher geleert hatte. Nun wirkte sie viel schwächer als noch vor wenigen Augenblicken; die Todesuhr hakte eine weitere Minute ab, mit der sich Althea dem Unvermeidbaren näherte. »Gut, gut.«
Ich nahm ihr den Becher ab. »Möchten Sie noch mehr?«
»Nein, es sei denn, Sie wollen in schätzungsweise drei Minuten jemanden mit der Klingel rufen, der die Laken wechselt.« Althea winkte matt mit einer Hand, also stellte ich den Becher neben das Foto ihres Sohnes. »Das Zeug rutscht mittlerweile in einem durch.« Sie machte die Medikamente, die sie bekam, für ihr dünnes Blut verantwortlich.
In den Stuhl niederlassend, faltete ich die Hände zwischen den Knien und neigte mich nach vorn zu
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