Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)
Schludrigkeit von Westlakes Gesetzeshütern bei den Ermittlungen halte ich für unerhört. Was dem Jungen zugestoßen ist, geht über einen Unfall hinaus, aber ich kann es nicht beweisen, also bin ich hergekommen, um mich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Und was glauben Sie, könnte ich Ihnen sagen?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Vielleicht nichts. Allerdings kann es sein, dass Sie etwas wissen, dessen Wichtigkeit Sie nicht bemerkt haben – etwas, das ich dem, was ich bisher herausgefunden habe, zufügen kann, um das Puzzle zu vervollständigen.«
Althea schaute mich emotional ungerührt an. Falls sie nach meinen Ausführungen etwas fühlte – überhaupt irgendetwas –, bezeugte ihre Miene es nicht. »Seien Sie so gut und öffnen Sie die Jalousie, bitte«, sagte sie letztlich im trägen Ton.
Ich stand auf und trat vors Fenster. Ein Plastikrohr, das ungefähr so dick wie ein Kugelschreiber war, pendelte an der Seite. Ich drehte daran, bis sich die Lamellen öffneten, dann schob ich sie von der Scheibe fort. Draußen schien weder die Sonne, noch raubte ein strahlend blauer Himmel den Atem; nur dichte Quellwolken zogen müßig vorbei. Die Landschaft wirkte ausgehöhlt und farblos wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film. Ich sah mein Auto auf dem Parkplatz. Darüber zwei Falken, deren Nest ich zuvor am Sims entdeckt hatte. Sie kreisten nun scheinbar hungrig in der Höhe, als warteten sie auf das Ableben ihrer Beute – meines Hondas?
Als ich mich umwandte, besah Althea einmal mehr das Foto ihres Sohnes auf dem Nachtschrank. »Was genau schreiben Sie?«
»Romane.«
»Welcher Art?«
»Eher düsteres Zeug. Horrorbücher. Mystery. Menschen, die Gespenster aus der Vergangenheit hinterher jagen, sowohl wortwörtlich als auch im übertragenen Sinn.«
Desinteressiert versuchte sie sich zur Seite zu lehnen, um es sich einigermaßen bequem auf den Kissen zu machen. Ich würde sagen, dass es ihr Schmerzen verursachte. »Ich persönlich«, sprach sie dann, »bevorzuge Liebesromane. Haben Sie jemals etwas Romantisches geschrieben? Eine Lovestory?«
»Auf diese Art beginnen alle«, antwortete ich, und es entsprach der Wahrheit. Althea schaute aus dem Fenster. Ob sie das Wetter enttäuschte oder genau dieses erwartet hatte, konnte ich nicht sagen. Überhaupt schien diese Frau nur schwer fassbar zu sein.
»Ich weiß nicht, was Sie sich von unserem Gespräch erhoffen«, gab sie nach einer Weile zu bedenken.
»Wie lange haben Sie Elijah unterrichtet?«
»Etwas länger als einen Monat. Das County hat mich dazu beauftragt, vermutlich nachdem irgendwem aufgefallen war, dass es dort einen Jungen im schulpflichtigen Alter gab. Jedenfalls nahm man seine Mutter unter die Lupe.«
»Veronica.«
»Ja, Veronica.«
»Kannten Sie ihren Vater Bernard Dentman? Soweit ich weiß, kehrte Veronica mit ihrem Bruder David nach Westlake zurück, um ihn bis zu seinem Tod zu pflegen.«
»Das deckt sich mit dem, was mir zu Ohren kam, aber ich kannte den Mann nicht, denn er war schon tot, als ich dort anfing.«
»Weshalb blieben Sie nur einen Monat?«
»Weil mir der Krebs zunehmend zu schaffen machte.«
»Tut mir leid.«
»Und außerdem konnte ich nur wenig bei dem Jungen ausrichten.«
»Wieso?«
»Er war anders.«
Ich entsann mich der Beschreibung, die Adam mir nachts nach der Weihnachtsfeier gegeben hatte, Elijah war geistig ein wenig zurückgeblieben, weshalb er Heimunterricht bekam …
»Ich bezweifle stark, dass man ihn je richtig von einem Arzt untersuchen ließ«, fuhr Althea fort, »aber für mich war das Kind autistisch veranlagt.«
»Was macht sie da so sicher?«
»Ich spürte es einfach. Er hatte Kommunikationsschwierigkeiten und wusste sich nicht richtig auszudrücken. Für einen gewöhnlichen Zehnjährigen hing er in seinen Fähigkeiten weit zurück. Er sprach abgehackt und stotterte wie der Motor eines Traktors bei Kälte. Selbst einfachste Mathematikaufgaben wurden zum Problem und er versteckte sich unterm Küchentisch. Manchmal ließ er sich mit Keksen locken, aber oft blieb er dort sitzen, bis ich aufbrach. So begann die Beziehung zwischen mir und dem Kleinen, um genau zu sein. Ich brachte Süßigkeiten mit und bot sie ihm zu Beginn jeder Stunde an.«
»Wie verstanden Sie sich mit der Mutter?«
»Sie liebte ihn sehr. Jedoch war sie als Mensch ebenfalls gebrochen. Mir kam es immer so vor, als leide sie nach irgendeinem Schicksalsschlag – vermutlich in ihrer Kindheit – unter einem Trauma. Elijahs Erziehung
Weitere Kostenlose Bücher