Die Treue des Highlanders (German Edition)
heftig nie einen erlebt hatte, trotzdem war sie in Sicherheit. Anna wusste vom Prinzip des
Faraday’schen Käfigs
, der die Insassen eines Autos vor Blitzen schützte, aber es war etwas völlig anderes, theoretisch darüber Bescheid zu wissen, als hier dem Unwetter ausgesetzt zu sein.
»Ganz ruhig, Anna!«, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. »Du bist hier im Trockenen und Warmen und musst nur abwarten, bis das Gewitter vorbei ist.«
Platsch! Anna wischte sich verwirrt über die Nase. Platsch! Ein zweiter Tropfen traf ihre Wange. Sie blickte nach oben und erkannte, wie Wasser zwischen Wagentür und Verdeck langsam, aber sicher eindrang – ein Cabrio war eben nicht das geeignete Fahrzeug für eine Tour durch die Highlands. Anna nahm ein Päckchen Papiertaschentücher aus dem Handschuhfach und stopfte einige in den schmalen Spalt, sie waren jedoch binnen kurzer Zeit durchnässt. Sie knirschte mit den Zähnen, aber es half alles nichts: Sie würde wohl oder übel Bruce anrufen und um Hilfe bitten müssen. Anna war sich zwar nicht sicher, vermutete aber, dass der linke Vorderreifen beim Bremsen auf einen spitzen Stein gestoßen und geplatzt war. Somit saß sie hier fest. Anna glaubte kaum, dass mitten in der Nacht und bei dem Wetter irgendein freundlicher Bauer auf seinem Traktor vorbeikommen und ihr helfen würde. Sie selbst hatte noch nie einen Reifen gewechselt.
Unwillig griff Anna nach ihrem Handy und drückte die Kurzwahl für Bruces Nummer. Dann erst sah sie auf dem Display, dass sie kein Netz hatte. Nicht einen Strich, nicht einmal die Andeutung eines Empfangs.
»Verdammt!«, fluchte sie erneut. Offensichtlich befand sie sich in einem Funkloch, kein Wunder bei den vielen Bergen ringsherum. Beim nächsten Blitz und dem beinahe gleichzeitigen Donnerschlag drückte sie sich tiefer in die Ledersitze. Zitternd starrte Anna in die Dunkelheit, erkannte dann aber beim nächsten Blitz die Umrisse eines Hauses am See. Oder hatte sie sich getäuscht? Nein, der nächste kurze Augenblick der Helligkeit bestätigte ihre Vermutung – nur etwa hundert Meter entfernt befand sich eine Hütte! Sie lag völlig im Dunkeln, schien also unbewohnt zu sein. Aber vielleicht war die Tür offen? Alles war besser, als weiter hier im Wagen zu bleiben. Durch den Spalt zwischen Dach und Tür drang immer mehr Wasser ein, und es wurde unangenehm kalt. Anna wartete den nächsten Donner ab, dann schnappte sie ihre Handtasche, öffnete die Tür und rannte auf die Hütte zu. Obwohl sie nur eine knappe halbe Minute für den Weg brauchte, war sie völlig durchnässt, als sie sich unter das kleine Vordach drückte. Zitternd griff sie nach der Klinke, die Tür ließ sich problemlos öffnen. Muffige, abgestandene Luft schlug ihr entgegen, aber in der Hütte war es trocken, das Dach schien also dicht zu sein. Zum ersten Mal bedauerte Anna, nicht zu rauchen, dann hätte sie ein Feuerzeug gehabt, um sich umzusehen. So konnte sie nur im Schein der Blitze die karge Einrichtung ausmachen: einen groben Holztisch, eine Bank, zwei Stühle und an der einen Schmalseite eine Feuerstelle. Anna tastete sich zum Kamin. In einem Korb lag trockenes Feuerholz, aber sie konnte in der Dunkelheit nirgends Streichhölzer oder ein Feuerzeug sehen. Auch schien es keine Kerzen oder eine sonstige Beleuchtungsquelle zu geben. Offenbar handelte es sich um eine Hütte, die Wanderern Schutz bei Unwetter bot. Solche gab es mehrere im Hochland, aber sie waren weder an die Kanalisation noch an die Elektrizität angeschlossen. Seufzend ließ sich Anna auf die Bank fallen. Zu ihrer Freude ertastete sie eine Wolldecke, die zwar muffig roch, aber sauber zu sein schien. Anna wickelte die Decke um ihre Schultern und lehnte sich zurück. Das Gewitter und der Sturm hatten noch nichts von ihrer Kraft verloren, der Wind zerrte an den Dachstreben, und Anna hoffte, dass die Hütte massiv genug gebaut war, um den Wetterverhältnissen im Hochland standzuhalten. Wahrscheinlich würde sie sich darauf einstellen müssen, die Nacht an diesem wenig gastlichen Ort zu verbringen. Nun, es war immer noch besser, als draußen im Auto zu sitzen. Trotz aller logischen und physikalischen Überlegungen fühlte sich Anna in einer steinernen Hütte mit einem festen Dach sicherer als in einem Sportcabriolet.
Langsam beruhigte sie sich und lehnte sich entspannt zurück, um beim nächsten Donnerschlag mit einem Schrei in die Höhe zu fahren. Der Grund war aber nicht der Donner, sondern dass jemand zeitgleich die
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