Die Tudor-Verschwörung: Historischer Roman (German Edition)
Spätestens jetzt erkannten diejenigen, die dem Herzog bis zum Schluss die Treue gehalten hatten, ihren Fehler und versuchten im letzten Moment die Flucht, obwohl die Festungsmauern bemannt waren und die Tore verriegelt wurden.
In vollem Lauf rannte ich die Treppe des Hauptgebäudes hinunter, nur um jäh stehen zu bleiben. Ich hielt über das Gewimmel im Hof hinweg nach jener Gestalt Ausschau, die ich zu Beginn wahrgenommen hatte und bei der ich mir inzwischen sicher war, dass meine überreizte Vorstellungskraft mir keinen Streich gespielt hatte.
Das war Master Shelton in einem schwarzen Umhang gewesen. Master Shelton: der Lady Dudley und Guilford bei der Flucht geholfen und Cecil zusammen mit mir zum Hauptgebäude hatte laufen sehen. Er musste immer noch in der Nähe sein. Lady Dudley wartete auf ihn, und er würde erst dann aufgeben, wenn für ihn feststand, dass er nichts mehr für sie tun konnte. Master Shelton war die Zuverlässigkeit in Person. Was auch geschehen mochte, er erfüllte seine Pflicht.
Aber wie ich inzwischen in Erfahrung gebracht hatte, hatte er noch einiges mehr getan. Bevor er zum Haus Dudley gestoßen war, hatte er Charles von Suffolk gedient. Von ihrer gemeinsamen Zeit dort musste ihn Mistress Alice gekannt haben. Und ohne dass Lady Dudley etwas davon ahnte, hatte meine alte Amme ihm die Wahrheit über meine Geburt anvertraut. In seiner Trauer um meine Mutter hatte er Mary Tudor jenes Fragment eines größeren Schmuckstücks gebracht. Und er war der Mann gewesen, der mich bei meiner Flucht aus Greenwich verschont hatte. Was ich nicht wusste, war, wie tief das Band zwischen ihm und meiner Mutter war, ja, ob es am Ende sogar der Grund gewesen war, warum sie ihre Schwangerschaft verborgen hatte. Nur um Lady Dudley zu überrumpeln, hatte ich mich als Suffolks Sohn bezeichnet, aber irgendwo fehlte noch dasjenige Teilchen, mit dem alles stand und fiel. Einen Schlüssel hatte ich noch nicht, und erst wenn ich ihn entdeckte, würde sich mir das letzte Geheimnis offenbaren.
Diesen Schlüssel besaß Master Shelton. Nur er konnte mir verraten, ob er mein Vater war.
Fluchend spähte ich in die flackernde Dunkelheit, in der in Umhänge gehüllte Gestalten wie Schatten durcheinanderrannten. In diesem Chaos würde ich ihn nie finden. Ich hätte längst aufgeben und mich um meine eigene Flucht kümmern sollen, solange ich noch konnte, bevor sie alle Tore schlossen und ich selbst gefangen war.
Schon begann ich, in die Richtung zu laufen, in die die Mehrheit strebte, als ich unvermittelt einen Schatten vor der Mauer mir gegenüber bemerkte, die bereits in tintenschwarze Dunkelheit getaucht war.
Eine Kapuze schirmte sein Gesicht ab. Er stand regungslos da wie eine Säule. Ich verharrte, jeden Nerv zum Zerreißen angespannt. Da hob der Schatten den Kopf. Für einen elektrisierenden Moment begegneten sich unsere Blicke. Ich sprang auf ihn zu. Gleichzeitig wirbelte Master Shelton herum, rannte los und tauchte in der Menge unter, die wie eine in Panik geratene Herde in blinder Flucht zum Tor drängte.
Ich kämpfte mich vorwärts. Master Shelton war vor mir, zu erkennen an seinen massiven Schultern. Der gepflasterte Weg wurde immer enger und zwang die fliehenden Beamten und Schreiber, sich in einen Flaschenhals zu drängen. Das Fallgitter war geschlossen. Ein Schlund voller spitzer Zähne verhinderte jedes Entkommen. Hinter uns kündigte das Klappern von Hufen die Ankunft der berittenen Patrouille an. Sie wurde begleitet von Dutzenden Wächtern in Helm und Panzer.
Entsetzt beobachtete ich, wie die Soldaten begannen, scheinbar willkürlich Männer herauszugreifen und mit Fragen zu bestürmen. »Wem dienst du? Königin oder Herzog?« Im gleichen Takt stießen Lanzen in Fleisch und Knochen. Binnen Sekunden erfüllte ekelerregender Urin- und Blutgestank die Luft. Am Fallgitter krallten sich Männer in panischer Raserei ineinander, kletterten über Köpfe, Schultern oder Rippen, brachen und zermalmten noch mehr Knochen.
Master Shelton versuchte zurückzuweichen, sich an den Rand dieser Stampede zu kämpfen. Wenn ihn ein Wächter oder sonst jemand als Bediensteten der Dudleys identifizierte, war das sein sicherer Tod. Das Nahen eines blutverschmierten Wächters auf einem mächtigen fuchsbraunen Hengst zwang die Menge dazu, sich zu teilen. Eine Reihe von Männern hatte das Pech, zu stürzen und in den Burggraben zu fallen, wo schon andere schwammen oder gegen das Ertrinken ankämpften. Ich drängte unter Einsatz
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