Die Tunnel der Seele
Ruhe verdient.
»Halte durch, Mason. Gleich haben wir es geschafft.«
»Das wäre gut, denn das Haus wird wohl gleich einstürzen.«
Endlich erreichten sie den Boden. Geschwächt von seinen Wunden geriet Mason ins Straucheln. Auf Anna gestützt wankte er zur Wiese gegenüber des Hauses. Der Frost war von der Hitze geschmolzen, aus dem feuchten Gras stieg Nebel auf. Als sie in Sicherheit waren, brachen Anna und Mason zusammen, ließen sich erschöpft auf die Erde fallen, pressten mit keuchenden Atemzügen den beißenden Rauch aus ihren Lungen, vor ihren Augen Korban, der auf dem Scheiterhaufen verbrannte.
Vom imposanten Fachwerk des Hauses war nur noch ein verkohltes Gerippe übrig geblieben. Korbans Gesicht flackerte, hundertfach vergrößert, in den Flammen auf, die ihn in seinem persönlichen schwarzen Tunnel gefangen hielten. Es war der Tunnel, in dem seine Träume starben, seine Diener sich von ihm lossagten, sein Herz zu Asche und Staub zerfiel. Wo er nichts und niemanden mehr besaß und wo sein Werk für immer unvollendet bleiben würde.
Die Giebel legten sich in Falten, die Geländer neigten sich zur Seite. Die ionischen Säulen zerbrachen und der Säulenvorbau fiel mit einem Donnern in sich zusammen. Aus den Fenstern quoll Feuer, die Wände stürzten aufeinander und ineinander, das Klavier polterte mit einem blechernen Tosen in den Keller. Glas zersprang, Funken sprühten, Rauch stieg vom Dach des Hauses heraus wie aus einem Höllenschlund, der das Ende der Welt einleitete.
»Sieh mal«, sagte Anna und zeigte hinüber zur Wiese am Rande des Waldes. Streichholzgroße Gestalten streiften im Schatten umher.
»Einige sind der Hölle entkommen«, meinte Mason. »Sie sind doch am Leben, oder?«
»Sieht so aus.« Sie realisierte, dass ihre Gabe auf einmal verschwunden war. Wahrscheinlich war sie mit ihrem eigenen Geist untergegangen und Ephram Korban zum Opfer gefallen.
Und den waren sie Gott sei Dank los.
Über die Wiese galoppierten Pferde, die ängstlich wieherten. Plötzlich wurde der Nachthimmel von einem erschütternden Schrei entzwei gerissen, der über die Berge hinweg hallte. Die Erde bebte, die Bäume krümmten sich, die Scheune stürzte ein. Auch die Zäune fielen zu Boden und blieben dort liegen wie feuchte Knochen, die im Mondlicht glänzten.
»Er nimmt alles mit sich«, sagte Anna.
»Bedeutet das, dass er …?«
»Tot ist? Wissen wir denn überhaupt noch, was tot bedeutet?«
Er legte den Arm um sie und sie schmiegte sich an ihn, dankbar für seine Wärme. »Ich denke, das ist alles nur ein Traum. Aber ich halte nicht viel von Träumen. Ich bin lieber hellwach.«
»Geht mir genauso.«
Dicht beieinander saßen sie im Gras, sahen zu, wie das Feuer schrumpfte und warteten auf die Morgendämmerung.
80. KAPITEL
»D ie Brücke ist weg«, sagte Cris. »Da ist nichts weiter übrig als ein paar Holzbalken am Klippenrand.«
»Das überrascht mich nicht«, erwiderte Anna. »Korban hat alles mit sich gerissen, was ihm gehörte. Am Ende war er einfach nur ein Kontrollfreak.«
Über den Bergkämmen hatte sich die Sonne erhoben und brachte den verbleibenden Frost zum Schmelzen. Vom Boden stiegen Nebelschwaden wie Geister empor und verschmolzen mit den letzten Rauchwolken des schwelenden Hauses zu einem gräulichen Schleier. Gemeinsam mit Zainab und Paul saßen Anna und Mason auf Heuballen. Anna hatte die zwei Morgans an einer nahe gelegenen Akazie angebunden. Die anderen Pferde und die Rinder waren von ihrer ehemals eingezäunten Weide geflohen und grasten jetzt durch den Obsthain mit seinem verlockend duftenden, saftigen Gras. Am Ufer des kleinen Teiches, der sich am Fuße des Hanges erstreckte, suhlten sich Schweine und die Zaunkönige trällerten eine Melodie, die den Neuanfang der Welt verkündete.
Noch einmal sah Anna nach Masons Wunden. Er hielt seine Hand in das Wasserfass, in das aus einem Schlauch kaltes Quellwasser aus den Bergen floss. Er hatte Verbrennungen zweiten Grades. Es würden wahrscheinlich Narben zurückbleiben, aber die Wunden würden irgendwann heilen.
Die Zeit heilt ALLE Wunden,
dachte Anna.
Selbst ohne irgendwelche Zaubermittel oder Kräuter. Selbst wenn man nicht über Leben und Tod herrschte.
Paul riss einen Fetzen seines Shirts ab, tauchte das Stück Stoff ins Wasser und verband damit Masons Schnittwunde am Arm. »Ich war mal Pfadfinder«, sagte er.
»Adler-Abzeichen?« fragte Mason mit schmerzverzerrtem Gesicht.
»Nein. Ich habe es gerade einmal bis zum Bussard
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