Die Ueberlebende
meine Mutter, meine Geliebte.
Hoffentlich kommt die Dunkelheit recht bald über mich.
â â â
Wir fuhren in halsbrecherischem Tempo zurück nach Amritsar. Irgendwie hatten wir das Gefühl, dass wir schnellstmöglich zu ihr mussten, denn Ramnath würde zweifellos Beweise für Durgas labilen Zustand benötigen. Doch wie sollte er diese beschaffen, auÃer, indem er seine Verbündeten überredete, diesen Zustand herzustellen, die Berichte zu manipulieren, die Injektionen zu verabreichen, sie mit Elektroschocks zu behandeln â was ohnehin nicht zulässig war â, und zwar auch ohne Betäubung, so, wie sie es mit Sharda gemacht hatten.
Ich hoffte nur, dass es meinem alten Freund Prakash Goel, dem Direktor der Klinik, gelänge, diese Ansinnen zu durchkreuzen. Denn leider verhält es sich ja oft so, dass derjenige, der die Verantwortung trägt, der Letzte ist, der davon erfährt, was sich tut. Wenn man die niederen Ränge nur tüchtig schmierte, wurden oft an dieser Stelle die entscheidenden Fäden gezogen.
Das vertraute rot-graue Gebäude kam mir entgegengeflogen wie ein Geier. Ich wusste, dass ich viel zu viel redete, mich zu hektisch bewegte, mich aufführte, als wäre ich selbst nicht ganz richtig im Kopf. Fast hätte ich Gurmit mit zum Empfangstresen gezerrt. Schnell, schnell, schnell , flüsterte die ganze Zeit eine Stimme in meinem Kopf. Vielleicht ist es schon zu spät, zu spät, zu spät . Ich hatte den Klang von Shardas gebrochener Stimme im Ohr, ich sah vor mir, wie sie sich mit den Händen in der Luft festzukrallen versuchte, wie sich ihr gequältes Gesicht verzerrte, wenn sie sich an die Schmerzen erinnerte, die Rituale der Erniedrigung. Die unsinnigen Worte, die sie von sich gab, kündeten von ihrem Kummer. Die uns vertraute Sprache hatte sie ganz vergessen, denn es gab in dieser Sprache keine Worte, um uns zu beschreiben, was sie durchgemacht hatte.
Das alles war mir während der Fahrt nach Amritsar, während der ich in Durgas Aufzeichnungen las, klar geworden â obwohl ich mir gewünscht hätte, sie unter weniger tragischen Umständen lesen zu können.
In mancherlei Hinsicht war dies die Geschichte, die Gurmit schon vor den Morden hatte veröffentlichen wollen â besonders, was die Tötung weiblicher Kinder betraf. Er war bei seinen Recherchen in örtlichen Krankenhäusern darauf gestoÃen, denen Santji gröÃere Geldzuwendungen hatte zukommen lassen, so dass die dortigen Ãrzte ihm viel zu sehr verpflichtet waren, als dass sie einen solchen Vorfall der Polizei gemeldet hätten â er selbst besaà auch eine Klinik, in der regelmäÃig Abtreibungen vorgenommen wurden. Doch die Herausgeber der Zeitung hatten Gurmits Artikel und die darin aufgestellten Behauptungen natürlich nicht geglaubt, vor allem, was Ramnaths Beteiligung betraf â handelte es sich bei ihm doch schlieÃlich um einen hochdekorierten, hervorragenden Polizeiermittler, der auÃerdem noch stolzer Vater zweier Töchter war.
Doch Gurmit war noch zu weiteren beunruhigenden Erkenntnissen gelangt, bei denen er selbst noch nicht so ganz durchblickte, etwa, dass Harpreet, jener geradezu unanständig schöne Mann, sich gelegentlich mit Durga traf â mal in ihrem Elternhaus, mal woanders, in kleinen Hotels am Stadtrand von Jullundur etwa. Ma Sukhi hatte wie immer recht gehabt. Zwei Mal hatte der Hauslehrer gemeinsam mit Durga die Stadt verlassen, doch Gurmit hatte sich seinerzeit nicht vorstellen können, dass dieser Umstand Teil eines umfassenderen Plans sein könnte oder dass Harpreet Durga möglicherweise eine umfangreichere Lektion zu erteilen hatte â etwas, das nicht nur ihre eigene Existenz vernichten würde, sondern auch die sämtlicher Menschen, die sie je gekannt hatte, gleich mit.
Konnte es sein, dass Durga sich Harpreet zugewandt hatte, weil sie immer noch die Liebe suchte, die ihr mit dem Verschwinden ihrer Schwester abhandengekommen war? In ihm hatte sie immerhin jemanden gefunden, der ihre Schwester ebenfalls geliebt hatte. Und durch ihn und seinen Körper konnte sie ihrerseits ihre Schwester wieder lieben. Doch in ihrer Verzweiflung war ihr einfach nicht aufgegangen, dass der Mann ihre Gefühle und ihre Sexualität benutzte, um sie zu manipulieren.
Anfangs mochte er Durgas Zuneigung möglicherweise noch als schmeichelhaft empfunden haben, doch dann setzte er das
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