Die Ueberlebenden von Mogadischu

  Oktober die 82 Lufthansa-Passagiere und fünf Besatzungsmitglieder entführt werden, kommt zum Drama um Hanns Martin Schleyer ein weiteres hinzu. Zwar schöpft jetzt die Familie Schleyer wieder Hoffnung – der jüngste Sohn von Hanns Martin Schleyer wird im Stern mit den Worten zitiert: »Wir sind jetzt wieder etwas hoffnungsvoller. Wir glauben nicht, dass die Bundesregierung 87 Menschenleben aufs Spiel setzen wird.« Doch tatsächlich verengt die neue Dimension den Entscheidungsspielraum der Bundesregierung erheblich. Bundeskanzler Helmut Schmidt 69 und die anderen Bonner Führungspolitiker müssen sich in ihrer Überzeugung, dass mit Terroristen kein Handel zu machen ist, bestärkt fühlen. Ein solcher Gegner würde nie innehalten. Befreite Terroristen würden wieder Gewalttaten verüben mit weiteren Opfern.
    Jetzt geht es nicht mehr nur um den Krieg der Roten Armee Fraktion gegen Staat und Gesellschaft in Westdeutschland, es geht auch um den Freiheitskampf der Palästinenser gegen Israel. Es spielt für den Entscheidungsspielraum der Politiker letztlich keine Rolle, dass die »Landshut«-Entführung für eine internationale Dimension des Deutschen Herbstes sorgt. Und doch: Mit der »Landshut«-Entführung üben die Terroristen einen vielfach gesteigerten symbolischen Druck aus. Jetzt steht nicht mehr nur ein mögliches Opfer in Rede, jetzt geht es um 87 weitere Menschenleben.
    Die Bundesregierung würde sie im Zweifel opfern. Sie würde es tun, aber sie würde sich sehr schwer damit tun.
    Auch der öffentliche Charakter dieses neuen Drucks ist mit dem bisherigen nicht vergleichbar, denn während Hanns Martin Schleyer in einem Versteck bleiben muss und nur kurze Videobotschaften von ihm nach draußen gelangen, sind die neuen Geiseln für alle Welt lokalisierbar. Sie sitzen zwar in einem kleinen, engen Flugzeug, aber dennoch auf dem Präsentierteller für die Weltpresse. Rund um die Uhr können Reporter aller Länder in Sichtweite um den Ort, an dem sich die Geiseln befinden, berichten.
    Eine zusätzliche moralische Belastung für die Bundesregierung stellt der Umstand dar, dass die »Landshut«-Geiseln mit dem innenpolitischen Konflikt, der im Jahr 1977 eskaliert, nichts zu tun haben. Bei Hanns Martin Schleyer ist angesichts seiner Funktionen während des Nationalsozialismus und seiner Rolle als Arbeitgeberpräsident noch nachvollziehbar, dass Gegner des Staates in ihm eine Symbolfigur für ebendiesen Staat sehen. Hanns Martin Schleyer wurde wegen seiner politischen Vergangenheit im »Dritten Reich« und seiner Arbeit an einer exponierten Stelle 70 der Bundesrepublik entführt. Einen Zusammenhang zwischen politischer Vergangenheit und beruflicher Rolle mit der Entführung gibt es bei Mallorca-Urlaubern jedoch nicht. Sie sind eine Zufallswahl, die zeigen soll: Es kann jede und jeden von euch treffen!
    Bisher hat sich der Terror der Roten Armee Fraktion wie erwähnt zunächst gegen »Sachen« und dann gegen Repräsentanten des Staates gerichtet. Die Terroristen betrachteten den Tod nichtprominenter Menschen, etwa des Fahrers und des Begleitpersonals von Hanns Martin Schleyer, als unvermeidbare Kollateralschäden. Um Schleyer zu ergreifen, musste der – aus Sicht der Terroristen – schnellste und kürzeste Weg zu diesem Mann gewählt werden.
    Mit der »Landshut«-Entführung greift die Rote Armee Frak­tion, gemeinsam mit der »befreundeten« Palästinenser-Gruppe, erstmals die deutsche Bevölkerung direkt an. Beliebige Deutsche und beliebige Nichtdeutsche werden stellvertretend für alle Deutschen oder gar alle Bewohner der westlichen, proisraelischen Industrienationen als Geisel genommen. Mit der »Landshut«-Entführung gibt man der Bundesregierung zu erkennen, dass jetzt der Tod nichtprominenter, an ihrer Geiselrolle unschuldiger Frauen und Männer ins Kalkül zu ziehen ist.
    Es ist dieser Umstand, der die »Landshut«-Entführung zur »größten Herausforderung der Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen« macht, wie Hans-Jürgen Wischnewski in seinen Memoiren schreibt. Helmut Schmidt nennt es sogar einmal die »schwerste Krise des Rechtsstaats seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland«.
    Die Maximen der Bundesregierung sind indes klar, und sie macht aus ihnen – der von ihr selbst verhängten Nachrichtensperre zum Trotz – keinen Hehl. Die Maximen lauten:
     
- keine Freilassung von Terroristen,
- Befreiung von Hanns Martin Schleyer aus seinem Versteck,
- Verhandlungen 71 mit den