Die Uhr der Skythen (German Edition)
Augen schloß, dann wäre die Zeit zum Stehen gekommen, und niemand wäre dagewesen, sie wieder in Gang zu setzen, niemand wäre auf die skurille Idee gekommen, im Container nach den Geheimnissen des ewigen Stillstandes suchen. Und niemand hätte es können.
Der Sekundenzeiger trifft sich mit dem Minutenzeiger im Zenit, der Stundenzeiger springt in einer hastigen Bewegung auf die zehn, beinahe so, als hätte er Angst, seinen Auftritt zu verpassen, die Zeit steht für eine unmessbar kurze Zeit still, aber ehe sie sich wieder in Gang setzen kann, öffnet Fokko das geheimnisvolle Uhrwerk.
Oder er wäre erwacht, wie er erwacht ist, orientierungslos, verkatert und allein, alles wäre so geschehen, wie es geschehen ist, er hätte sich aus dem Container, aus seinen wirren Träumen befreit, und erst im Schutz des Hexenganges hätte ihm etwas auffallen können. Aber, so fällt ihm ein, der Regen wäre nicht gefallen, den Geistlichen, der ihm das Gelobt sei Jesus Christus zugeraunt hatte, hätte er nicht vermissen können. Was wäre mit den trunkenen Brüdern unten am Fluß gewesen? Was mit Eva, mit Anna? Wann wäre deren Nacht an ihr Ende gekommen?
Die Bahnsteigsuhr ist exakt auf zehn stehengeblieben. Es könnte eine Betriebsstörung sein oder dergleichen, aber die Krähe hockt auf dem Signal wie ausgestopft, der Wind ist still gegangen, und die Schneeflocken kleben auf dem Abbild der Welt. Fokko begreift nichts. Mit einer wilden Armbewegung durchfährt er den Schleier des fallenden Schnees, erzeugt einen Wirbel, aber die Flocken wissen in ihrer Schwerelosigkeit nicht, wohin sie zu fallen haben. Die physikalischen Gesetze scheinen außer Kraft gesetzt zu sein. In der Hand fängt er einen Schneekristall und sieht zu, wie er schmilzt. Das geht.
Er macht ein paar Schritte auf dem Bahnsteig. Alles funktioniert normal, allenfalls könnte er sich einbilden, daß er sich leichtfüßiger bewegt, unter einer geringeren Gravitation, wie unter Wasser vielleicht, aber er kann sich frei bewegen und hinterläßt Spuren im Schnee.
Behutsam schließt er die Zauberuhr. Der Wind ist sofort zurück, laut und unbeherrscht, treibt die Schneeflocken schräg über die Gleise und verwischt Fokkos Spuren. Die Krähe hockt noch auf dem Signal, die Bahnsteigsuhr bewegt sich ein paar Sekunden nach zehn. Die Zeit hat keinen Sprung gemacht, der Bahnhof ist nicht in einen Dornröschenschlaf gefallen, die Welt steht still und rührt sich nicht weiter, während Fokko van Steen in ihr herumspazieren kann, wie er will. Das ist ihm unheimlich, aber er ahnt, welche verrückten Möglichkeiten sich ihm eröffnen werden.
Von fern hört er eine Bahn näherkommen. Er könnte ohne weiteres die Wunderuhr auf eine Schiene legen, der Zug würde alle Zauberei in tausend Stücke zersprengen, und die Zeit wäre wieder, was sie gewesen ist: von gnadenloser Zuverlässigkeit und unumkehrbar. Das aber kann er noch immer machen.
Die Fahrt des Zuges verlangsamt sich, mit einem Quietschen kommt er zum Stehen, mit einem Zischen öffnen sich die Türen, und ein halbes Dutzend Menschen steigt aus. Jeder von ihnen scheint feste Absichten zu besitzen, die er mit entschlossenen Schritten und ohne einen Blick zur Seite in die Tat umzusetzen beabsichtigt, nur ein Mädchen macht sich von der Hand seiner Mutter frei, bleibt stehen und schaut sich um. Es scheint ein Privileg der Kinder zu sein, ohne Plan innezuhalten, sich zu wundern, an was für einem Fleck die Bahn einen freigegeben hat, die Erwachsenen dagegen flüchten sich offenbar in ihre Rastlosigkeit, fürchten zu begreifen, daß sie sich ihr Lebtag wie ein Esel an einem Brunnen im Kreis bewegen.
Er öffnet die Uhr.
Die kosmische Ruhe, die ihn augenblicklich umfängt, ist betörend. Die Bewegungen der Menschen sind eingefroren, Fokko kann sich ungeniert erheben, zwischen ihnen flanieren und ihre Absichten zu deuten versuchen. Das Mädchen schaut ihn mit neugierigem Blick aus blauen, unbeweglichen Augen an. Nicht der leiseste Wind spielt mit ihren Haaren, die Kälte kann sie nicht frieren lassen, und die Absichten ihrer Mutter sind so weit entfernt wie der Mond hinter den Wolken auf der anderen Seite der Erde. Das Kind ist vielleicht acht oder neun Jahre alt und wahrscheinlich längst auf dem Weg zu lernen, wie man seine Neugier verliert und sich in der Coolness der Älteren verkapselt, aber noch, so kommt es ihm vor, steht in seiner Miene so etwas geschrieben wie ein dankbares Staunen, das die beiden Jugendlichen, die eben
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