Die Uhr der Skythen (German Edition)
die oberste Stufe der Treppe erreicht haben, wohl schon lange nicht mehr kennen.
Fokko tritt näher und schaut sie sich genauer an. Sie sind vermutlich doppelt so alt wie das Mädchen, tragen grelle, weite Kleider irgendwelcher amerikanischen Vorbilder, sind in großen Gebärden festgewachsen, der eine hält eine Dose Bier in der Hand, der andere führt eben eine Zigarette zum Mund. Fokko schaut dem Raucher in die Augen. Sie wirken wachsam, aber auch ruhig, angstfrei, und er fragt sich, ob da ganz hinten drin Bewußtsein existiert. Vielleicht sind ja alle, die auf dem Bahnsteig des Hasetorbahnhofs eingefroren sind, in ein Wachkoma gefallen, vielleicht beobachten sie ihn in diesem Moment voller Ratlosigkeit und Schrecken, vielleicht glauben sie zu träumen oder eingesperrt zu sein wie er selbst eine merkwürdige Neujahrsnacht lang in einem Müllcontainer.
Er berührt die Hand des anderen Jungen. Sie ist weder kalt noch warm. Die Finger lassen sich mühelos bewegen, er kann den fremden Arm in eine andere Position bringen und den Kopf zur Seite drehen. Es funktioniert wie bei einer perfekten Schaufensterpuppe, der junge Mann scheint allerdings durch die übliche Schwerkraft mit der Erde verbunden zu sein, sonst wäre er sicher schon ins Wanken geraten, und das Mädchen, das Fokko gestreichelt hat, schwebte womöglich über dem Bahnhof wie ein Engel in der Darstellung alter Meister.
Die Gravitation, überlegt er, ist von der Zeit unabhängig. Er nimmt dem Jugendlichen die Bierdose aus der Hand und schüttet sie aus. Das Bier stürzt schäumend auf den Bahnsteig wie sonst wohl auch, allenfalls kommt es ihm ein wenig verzögert vor, wie in einem Film, der verlangsamt abläuft. Die leere Dose drückt er dem anderen Jungen in die Hand, dafür nimmt er ihm die Zigarette weg und klemmt sie dem ersten zwischen die Finger. Er schaut die beiden Helden an. Was werden sie wahrnehmen, wenn er die Uhr schließt und sie aus ihrem Koma erwachen, als wäre nichts geschehen?
Er nimmt den alten Platz im Wartehäuschen ein. Dort liegt die magische Uhr aufgeklappt. Er sucht den Zettel hervor, auf dem er den Stand der Hieroglyphen skizziert hat, aber er kann keinen rechten Unterschied feststellen, die Zeichnung ist freilich nicht sehr genau, er muß sich bald mal die Mühe machen, die Zeichen auf den Scheiben exakt zu kopieren. Oder ein Foto machen. Wenn das überhaupt geht, denn ein Fotoapparat ist natürlich von den Verschlusszeiten abhängig. Aber vielleicht nicht, wenn er ihn in Händen hält.
Ich bin jetzt der Meister aller Zeit, sagt er still und schaut sich lächelnd um. Die Szene ist ein modernes Gemälde, und wenn niemand auf die Idee gekommen wäre, die Fotografie zu erfinden, gäbe es gewiß solche Bilder. Neujahr könnte es heißen, Wintertag oder Am Morgen. Dem Betrachter käme es authentisch vor, weil der Wind zu erkennen ist, obwohl er nicht bläst, die Kälte zu spüren, die Bewegungen der Menschen nachzuvollziehen sind, nur die seltsamen Fußspuren nicht, die antizyklisch zwischen die voraussichtlichen Wege der sichtbaren Menschen geschrieben stehen. Es sind seine. Werden sie noch existieren, wenn er die Uhr schließt? Anders kann er es sich kaum vorstellen, denn andernfalls wäre auch die Zeichnung, die er in die Hosentasche zurückschiebt, nicht mehr dagewesen, er hätte die kleinen Wege auf dem Gertrudenberg nicht wirklich gehen können oder hätte sich zuletzt da wiedergefunden, wo er zuerst gewesen war.
»Das wird kompliziert«, sagt er und schließt die Uhr.
Seine Fußspuren sind noch da, und die Menschen laufen ungeniert über sie hinweg. Das Mädchen schaut ihn fragend an, als hätte es etwas gespürt. Die beiden Jugendlichen an der Treppe sind in eine wilde Diskussion verfallen, und die Mutter hält unversehens inne, als schreckte sie aus tiefen Gedanken auf und erinnerte sich plötzlich, daß sie mit ihrem Kind unterwegs ist. Sie kommt ein paar Schritte zurück, greift die Hand des Mädchens, streift Fokko mit einem unsicheren Blick und zieht ihr Kind mit sich fort. Drüben fliegt eine Bierdose im hohen Bogen über den abfahrenden Zug.
Eventuell, denkt er, sind Kinder empfänglicher für das Phänomen der stillstehenden Zeit, weil es nicht so lange her ist, daß sie aus einer Welt zu uns gekommen sind, in der die hiesigen Gesetze der Chronologie keine Gültigkeit besitzen.
Der Wind hat nachgelassen, der Schnee fällt ruhig und gleichmäßig, nur über den Gleisen tanzt er nervös durch den Raum, den die
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