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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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auch?«
    »Zehn«, sagt Fokko und winkt ab.
    »Es gibt das Problem der Metamorphose der Wirklichkeit tatsächlich, und die Menschen versuchen, sich dagegen zu wehren, sich immer wieder zu beweisen, daß die Dinge in der Ordnung existieren, die sie ihnen geben. Am Ende vergeblich.«
    Er schaut über den Bahnhofsvorplatz, als könnte bei aufmerksamer Beobachtung in der Ladenzeile, bei den Taxis oder in den Fenstern des Hotels diese Metamorphose sichtbar werden. Der lebendige Bratwurststand hält ihm die Wurst hin. Schwammheimer zieht eine Senfflasche aus der Halterung und malt eine schmutziggelbe Spur auf den Wurstkörper.
    »Wenn ich die Uhr öffne«, fragt Fokko, »hält dann nur das Bild auf dem Schirm an oder doch das Leben in New York, die Autos auf der Brooklyn Bridge?«
    »Einerseits sind es nur virtuelle Bilder, nur Elektrizität, die irgendwelche Flüssigkristalle in eine Ordnung zwingt, die in unserem Gehirn die Vorstellung vom nächtlichen New York erzeugen. Andererseits ist das eine gute Frage.« Schwammheimer beißt in die Wurst, kaut eine Weile darauf herum, dann wiegt er gedankenschwer den Kopf und sagt leise: »Dialog von Bratwurst und mittelscharfem Senf… köstlich!«
    Ein Kind rennt mit geöffneten Armen auf einen Erwachsenen zu.
    »Was ist«, fragt Fokko, »wenn ich einem Impuls eine andere Richtung gebe?«
    »Wie meinst du das?«
    »Wenn etwas in Bewegung ist und ich drehe es mittendrin, was geschieht dann?«
    Schwammheimer hat soeben ein weiteres Mal in die Wurst gebissen, hebt die Schultern und macht ein fragendes Gesicht.
    »Stell dir ein Kind auf einem Fahrrad vor. Es flitzt vorbei. Die Zeit hält an, und es erstarrt mitsamt seinen Impulsen: die Geschwindigkeit nach vorn, die Balance und so fort. Dann gehe ich hin, drehe das Kind mitsamt dem Rad um hundertachtzig Grad, nehme Abstand und setze die Zeit wieder in Gang. Was passiert? Flitzt das Kind rückwärts in die alte Richtung oder vorwärts zurück?«
    »Probier es aus!« Schwammheimer zieht ein Taschentuch aus dem Mantel, ein gutes altes Stück mit Spitzenrand und eingesticktem Monogramm, und wischt sich die Lippen und die Finger sauber. »Noch einmal nach New York. Wenn du die Zeit einfrierst, behältst du, wie wir am Beispiel der Digitalkamera gesehen haben, Kontakt zur materiellen Welt. Stell dir vor, du sitzt mit der Fernbedienung vor dem Fernseher. Wenn der Apparat dir in deine parallele Zeitdimension gefolgt ist, wird er dir gehorchen, zieht Strom und liefert Bilder.«
    »Und auf der Brooklyn Bridge?«
    »Keine Ahnung. Das wirst du sehen. Entweder fahren die Autos weiter, dann ging es nur um den Einfluß auf den darstellenden Mechanismus…«
    »Oder sie stehen still.«
    »Ja. Das wäre dann gewissermaßen ein globaler Einfluß. Es bewegte sich überhaupt nichts mehr, kein Indio am Ufer des Amazonas, keine Möwe über dem Hafen von Shanghai.«
    »Und der Rest? Warum sollte sich dann die Erde weiterdrehen?«
    »Richtig. Aber ich glaube das nicht. Ich glaube noch immer an die Theorie von der Aura, an eine Art Magnetfeld, das konzentrisch um dich aufgebaut wird, und an den Rändern läßt der Einfluß nach, löst sich auf und…«
    »Das funktioniert nicht, Schwamm! Wie stellst du dir die Übergänge vor? Hundert Meter oder fünfhundert Kilometer entfernt dringt ein Wagen in die Atmosphäre der Zauberuhr ein und rast quasi in das Stauende des Zeitstillstandes?«
    »So ungefähr. Aber er rast nicht, er verlangsamt sich zum Stillstand. Es ist ein fließender Übergang.«
    »Dann wäre der maximale Einfluß im Zentrum des Zaubers.«
    »Ja.«
    »Und wo ist das Zentrum?«
    »Hier!«
    »Ist es meine Aura oder die der Uhr?«
    »Wieder keine schlechte Frage.« Schwammheimer hat die Wurst vertilgt, schaut ratlos in der Gegend herum, tritt mit den Füßen auf der Stelle, vergräbt die Hände tief im Mantel und zieht die Schultern hoch. »Man muss es ausprobieren.«
    »Ich kauf mir noch Tabak. Paß mal eben auf!« sagt Fokko und deutet auf den Rucksack zu seinen Füßen.
    »Warum schleppst du deine Habseligkeiten mit?« fragt Schwammheimer. »Hättest doch einiges bei mir lassen können!«
    »Das ist ohnehin nur das Notwendigste«, antwortet Fokko, dreht sich ab und geht in den Bahnhof zurück. Dort fallen die Wärme, der Lärm und die Betriebsamkeit über ihn her wie ein Haufen Gespenster, eine brennende Unruhe erfaßt ihn, ein Gefühl wie abgrundtiefe Scham, und er ahnt, es ist nichts als die Sehnsucht nach Eva, nach ihrer Nähe, nach ihrer

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