Die Uhr der Skythen (German Edition)
schon einiges, ein konkretes Beispiel ist mir allerdings momentan nicht plastisch präsent.«
Fokko löst sich von ihm, schaut sich um und deutet nach oben.
»Ich werde meine Habseligkeiten zusammensuchen, dann können wir gehen.«
Schwammheimer hält ihn mit seinem Blick fest.
»Fokko, es wird einige geben, die auf die Uhr scharf sind.«
»Eben«, sagt er und geht nach oben.
Kapitel 6
Ein Bettler mit gekrümmt geöffneter Hand schlurft vorüber, dabei bezeichnet sein Weg eine Schlangenlinie, weil er sich den Passanten, die ihm entgegenkommen, immer wieder rechts und links ein winziges Stück annähert, um ihnen Gelegenheit zur Barmherzigkeit zu geben. Die Anzeigetafel rattert, alle Schilder sind in Bewegung, für einen Augenblick ist jeder Sinn verflogen, dann aber ordnen sich die Zeilen in Zugläufe, Abfahrtszeiten und Verspätungen, als hätte sich ein großes Eisenbahngehirn nach einem zerstreuten Moment besonnen. Es wird ein Computer sein, denkt Fokko, der das Chaos ordnet, indem er auf den Fahrplan zugreift, ein perfekter Mitarbeiter, aber wenn er sich eines Tages irrt und in ein falsches Verzeichnis greift, darf man auf der großen Tafel vielleicht einen Liebesbrief lesen oder einen Vers aus der Offenbarung des Johannes: Denn die Zeit ist nahe.
Eine junge Frau mit scharlachrot explodierenden Haaren, einer mit Eisenketten behängten Lederjacke und einem Schottenrock über den Hosen geht in wiegendem Gleichschritt mit einem großen Mischlingshund auf den Ausgang zu. Das geschieht wirklich. Über ihr sieht man auf einem riesigen Bildschirm eine schwarze Limousine über den Roten Platz kriechen und ein altes russisches Mütterlein steht mit klobigen Stiefeln im Schnee und schaut dem Wagen hinterher. Das geschieht gleichzeitig, obschon die Uhr am Bildschirmrand kurz vor zwölf zeigt. Das Bild wechselt. Eine zähflüssige Dämmerung legt sich über Singapur, grelle Leuchtreklamen stehen diffus in der Skyline aufgeschrieben, die Uhr steht bei 16:59 Uhr, und Schwammheimer nähert sich mit einem Schwung Zeitschriften unter dem Arm wie ein Professor für Gedankenheilkunde.
»Das geschieht alles gleichzeitig«, sagt Fokko und weist auf den Bildschirm, auf dem eben New York erschienen ist, aber man erkennt es nur an dem Schriftzug neben der Uhrzeit, die Bilder auf dem großen Display sind in einer fernen Nacht versunken, auf dem Wasser eines Flusses spiegeln sich zitternd die Lampen einer Brücke, auf der sich Ströme weißer und roter Lichter begegnen.
»Brooklyn-Bridge«, sagt Schwammheimer.
»Woran erkennst du die?«
»Das sehe ich.«
»Wie kann es in New York jetzt vier Uhr morgens sein?« fragt Fokko, schüttelt den Kopf, weist auf den Bildschirm, aber die amerikanische Nacht ist längst dem europäischen Tag gewichen, der nun in den Zehn-Uhr-Nachrichten von einer frohsinnigen jungen Frau in einem orangefarbenen Kostüm seziert wird. Schwammheimer zieht den Freund Richtung Ausgang.
»Laß uns die Mobilwurst ihrer Bestimmung zuführen«, sagt er, drängt ins Freie und geht auf einen Bratwurststand zu, der seinem Besitzer wie ein burleskes Karnevalskostüm über die Schultern gestülpt ist.
»Früher«, sagt Fokko, »habe ich mir immer vorgestellt, daß dort, wo ich nicht mehr bin, das Leben aufhört. Als Kind bin ich mit meinem Vater ein einziges Mal verreist. Mit dem Bus in die Alpen. Fünf Tage. Kam mir vor wie in einem fahrbaren Kino. Als wir wieder zu Hause waren, bin ich zuerst um unser Haus gelaufen, um zu prüfen, daß es nicht nur ein Abbild auf einer Busfensterscheibe ist. Dann bin ich sofort zu meinem Platz gerannt, oben auf dem Deich, wo die Ems zum Dollart wird, heilfroh, daß es diesen geliebten Fleck noch gab nach all den verwirrenden Landschaften. Und als ich eine Weile gesessen und gezählt hatte, was zu mir gehörte, der Deich, die Ems, die Wolken und das andere Ufer, von dem ich wußte, daß man dort nach Emden kommt, konnte ich mir im Traum nicht vorstellen, daß die Bedienung mit dem üppigen Ausschnitt zur gleichen Zeit Blaubeerkuchen mit und ohne Sahne auf einem großen Tablett aus dem Wirtshaus an dem eiskalten Weiher an die Tische tragen und jeden Gast anlächeln sollte, wie sie mich angelächelt hatte. Ich wollte nicht glauben, daß es die rotbunten Rinder, die schneebedeckten Berge und die barocken Kirchen noch geben könnte, als ich glücklich nach Pogum zurückgefunden hatte.«
»Wie alt warst du damals?« fragt Schwammheimer und ordert eine mobile Wurst. »Du
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