Die Uhr der Skythen (German Edition)
einer Seiltänzerin. Ihr fuchsrotes Haar hat sie mit einer Spange hinter dem Kopf gebändigt, ein paar Locken haben sich aber befreit, umspielen schwerelos ihre sommersprossige Haut, ihre Kleider sind bunt und warm, sie trägt Wanderstiefel und auf dem Rücken einen alten Armeerucksack.
Bedächtig nimmt er ein wenig Abstand, schaut, was er nicht recht begreift. Die Knie sind nachgiebig wie sein Verstand, aber instinktiv geht er weitere Schritte zurück, sucht wie ein Fotograf den genuinen Punkt, in einer Ecke beim Eingang zum Zeitungsladen findet er ihn und erkennt in dramatischer Evidenz: er befindet sich in einem monumentalen Gemälde von großer sinnbildlicher Kraft. Zweifellos ist die junge Frau im Augenblick ihres Sturzes das Zentrum des Kunstwerkes, die Kuppel des sakralen Gebäudes umfängt alles wie ein naives Firmament, von dessen Schlußstein Linien in das Bild zurückfallen, sich harmonisch teilen, die Räume freigeben, in denen sich das Interieur wie von göttlicher Hand gefügt findet, und die dargestellten Personen befinden sich voller Sinn in Bewegung, orientieren sich an dem, was kommen wird, halten inne oder blicken zum Hochaltar der Anzeigetafel, als läsen sie dort ihre Heilsbotschaft.
Fokko will sich nicht lösen. Er weiß zwar, er befindet sich in einer begehbaren Apotheose und könnte die dritte Dimension durchwandern, solange es ihm gefiele, aber er wünscht sich eher Schwammheimers Kamera herbei, um diesen Moment für immer festzuhalten.
Schwammheimer. Zögerlich macht er einen Schritt nach vorn. Es ist, als löse sich das Bild augenblicklich in unerhebliche Bestandteile auf, der hohe Dom wird zur Bahnhofshalle, in den Köpfen der Menschen stecken nichts als Reiseziele, und im Schatten einer Säule fällt soeben eine junge Frau über eine Reisetasche. Die Zeit hält an. Und niemand anderes als der gute Freund Jakob Schwammheimer kann dahinterstecken, hat sich die Zauberuhr aus Fokkos Rucksack gefischt und seine Theorie ausprobiert, wonach eine Art Aura existiert, die Nähe zur Uhr entscheidet, wer Einfluß auf sie besitzt, aber, so erkennt er sofort, es wird nicht funktioniert haben, denn nur er selbst ist wieder als Einziger in der Lage, sich in der eingefrorenen Welt zu bewegen. Dieser Gedanke gibt ihm das Gefühl einer kleinen Allmacht.
Er tritt an die Frau heran, geht vor ihr in die Hocke und schaut in ihre lichtblauen Augen. Ein Rest des Lächelns, das sie ihm geschenkt hat, meint er zu erkennen, fragt sich, was in diesem Moment in ihr vorgeht: mischt sich, solange Schwammheimer die Uhr in seinen Fingern hält, Glück und Schrecken in ihrem Herzen, bemerkt sie ihn etwa, wie er vor ihr steht und durch zwei kleine Fenster in ihr Wachkoma schaut?
Mit einer Fingerspitze berührt er ihre Hand und streicht über ihre Haut. Weich fühlt sie sich an und kühl, ihr Leben pulsiert nicht mehr und ruht dennoch in ihr: ein unlösbarer Widerspruch. Er beugt sich zu ihr hin und gibt ihr einen scheuen Kuss auf die Wange.
»Warte einen Moment«, sagt er, erhebt sich und lächelt ihr zu. »Geht ja wohl auch nicht anders.« Dann sucht er sich einen Weg durch das irrsinnige Wachsfigurenkabinett, kann sich jetzt vollkommen anders zwischen den vielen Menschen bewegen, es gibt nicht mehr das vertraute Empfinden von Nähe und Distanz, er spürt wohl die euphorische Allmacht wieder, aber zugleich ist ihm wie in einer gigantischen Gruft, in der er umhergespenstert wie ein Untoter.
Auf dem Riesenbildschirm ist ein Skispringer hoch in der Luft über einem dahinfliegenden Wald zu sehen. Ist es nun ein stehengebliebenes Abbild, oder ist der Springer tatsächlich in den Alpen oder sonstwo in der Luft steckengeblieben wie die Krähe über den Gärten am Gertrudenberg? Wie auch immer, in beiden Fällen muß der Strom weiterfließen, um auf dem Schirm permanent ein Bild aufzubauen. Das aber ist sozusagen das Gegenteil von Stillstand.
Fokko schüttelt den Kopf. Er wird nicht alles begreifen. Schaut sich noch einmal um. Bei der Säule, zwischen den vielen erstarrten Menschen leuchtet ihr roter Haarschopf. Rasch verläßt er den Bahnhof, geht zum Mobilwurstmann, der eben und für ewig eine Wurst auf dem Grill dreht, aber Schwammheimer ist nirgends zu sehen, der Rucksack ist weg, die Uhr natürlich auch.
Wunderbar, denkt er und rennt auf den Platz hinaus. Ein Bus fährt einen Bogen. Er läuft an den Fenstern entlang, kein Schwammheimer drin zu sehen. In der Warteschlange der Taxis steckt er nicht, nicht in den
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