Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
Vom Netzwerk:
Zärtlichkeit, die sich aufgelöst hat wie der Schnee, den die Menschen in die Bahnhofshalle getragen haben. So wie diese Halle ist jetzt sein Leben, der hohe, hohle Raum sein Kopf, in dem alles durcheinander geht, sich nicht ein Gedanke einem anderen anschließt, jeder besitzt ein eigenes Ziel und hinterläßt doch eine beißende Spur.
    Der Kiosk mit den Tabakwaren ist eine Baustelle. Er fragt im Zeitungsladen. Es gibt einen Automaten um die Ecke, ein riesiges Schaufenster, in dem jeder der hundert Artikel mit gleichartigen in einem Fach ruht, und wenn man die dreistellige Kennzahl eingegeben hat, fährt ein ausgeklügeltes Transportsystem an die richtige Zelle, ein Schneckenmechanismus drückt das Gewünschte in den Aufzugkasten, der es in den Ausgabeschacht unten in der Ecke fährt. So sinnfällig und schlicht funktioniert momentan sein Gehirn.
    Vor ihm versucht die Frau mit den klobigen Stiefeln, die vorhin noch auf dem Roten Platz gestanden und voller Unverständnis der schwarzen Limousine hinterhergeschaut hat, eine Dose Hering in Tomatensoße zu kaufen, aber der Automat nimmt nichts zurück, tauscht nichts ein, nicht das Päckchen Papiertaschentücher, nicht die Herrenschokolade. Er hilft ihr mit dem Fisch, sie wechselt ihm Geld. Als er das Päckchen Tabak in den Händen hält, kommt es ihm vor, als wäre er mit einem Mal das Zentrum aller Bewegungen, aller Blicke, aller Absichten, die Bahnhofshalle unversehens ein hermetisches Planetensystem, in dem all die Rotationen, die vermeintlich linearen Bahnen und die ruhende Materie einzig über den Punkt definiert werden, auf dem er sich just befindet. Er macht einen Schritt, und in der Sekunde, die er braucht, folgt das komplette System in diese minimale Veränderung, die Wege modifizieren sich geringfügig, die Augen schwenken die Blicke millimeterweise, und selbst die Ruhenden atmen anders für diesen unbedeutenden Augenblick.
    Er hält inne und schaut sich um.
    Alles scheint normal. Die Menschen bewegen sich unter mehr oder weniger ausgeprägten Absichten. Es geschieht vor allem in echter oder vorgespielter Gleichgültigkeit. Niemand schaut jemanden an, es sei denn aus dem Schutz eines Schattens, einer zufällig wirkenden Bewegung oder bei Gelegenheit aus der Anonymität in aufblitzender Begehrlichkeit. Vor allem schaut niemand ihn an. Und doch, so ist er jetzt sicher, sind alle nur seinetwegen hier, sie wissen, daß er der Meister der Zeit ist, daß er ihnen ohne weiteres die Vorsätze und Gefühle für einhundert Jahre einfrieren kann.
    Er will das nicht.
    Nicht die wohlfeilen Experimente, die Schwammheimer sich ausdenkt, nicht die fabelhafte Macht der Zauberuhr, nicht die ungeahnten Möglichkeiten, will nur raus, macht ein paar rasche Schritte, und als er eben den Eingang zum Zeitungsladen passiert, kommt ihm um eine der mächtigen Säulen, die das Hallendach tragen, zwischen abgestellten Rucksäcken, Koffern und Taschen eine junge Frau entgegen, schaut ihn aus blitzenden Perlenaugen an, auf ihren Lippen entspringt, wie eine Blüte sich öffnet, ein herzzerreißendes Lächeln, fährt ihm brennend in den Bauch und sonstwohin, die Beine versagen ihren schlichten Dienst, sein wild hämmerndes Herz wird alsbald zu schlagen aufhören, da stößt sie mit dem Fuß gegen eine Tasche, stützt sich für einen Sekundenbruchteil an die Säule, vergeblich, wie Fokko erkennt, strauchelt, wird im nächsten Moment in die Landschaft aus Reisegepäck stürzen, da erstarrt sie inmitten der Bewegung wie in einem Film, der abrupt anhält, ist zu einer vom Blitz getroffenen Statue eingefroren. Und der Rest der Welt mit ihr.
    Er macht einen Schritt auf die Frau zu, hält ihr die Hände entgegen, um sie aufzufangen, aber es ist nicht möglich, sie ist eine kühn ausbalancierte Skulptur, ihr rechter Zeigefinger berührt wie in einem allegorischen Verweis eine der Säulen, die das Himmelsgewölbe des Bahnhofsuniversum tragen, wie ein Schutzengel, der sich soeben in die Lüfte erheben will, hat sie sich von den Gesetzen der Schwerkraft befreit, schwebt über den Gepäckstücken, die die Bürde des irdischen Daseins symbolisieren, und für einen letzten Atemzug ist ein Hauch von Jasmin zu spüren. Und Zimt, wie ihm scheint.
    Sie ist wunderschön. Das Licht ihrer Augen ist ein wenig nuanciert, ihr Lächeln zieht sich eben zurück, und das Glück, so will es ihm vorkommen, weicht eben dem Schrecken vor dem Sturz. Sie hat die Balance verloren und hält sie mit der zauberhaften Sicherheit

Weitere Kostenlose Bücher