Die Uhr der Skythen (German Edition)
vertraut erscheint, bist du doch in ein paralleles Universum geraten, lebst plötzlich in einer eigenen Zeit, alterst, während meine Biographie auf Eis gelegt ist, besitzt quasi die Fähigkeit, dich binnen einer halben Sekunde von einem Ort zum anderen zu bewegen, wenigstens in der Wahrnehmung derjenigen, die keinen blassen Schimmer davon haben, welch eine parallele Welt zu der ihren existiert.«
Fokko schaut in den Garten. Die Dohle ist wieder da, sucht mit ihrem Schnabel in einer alten Kaffeedose herum, zieht eine Wäscheklammer heraus und wirft sie zur Seite in den Schnee. Es ist sicherlich nichts anderes als ein artgerechtes Vogelverhalten, aber für einen Menschen wirkt es wie eine Geste der Verachtung. Er will keine Wunder, kein paralleles Universums und keine eigene Zeit. Er will jetzt in die klare Winterluft hinaus und sich ein Stück bewegen, will den Kopf frei bekommen von Evas Schamlosigkeit, von den genialen Forderungen der Zauberuhr, aber Schwammheimer ist noch längst nicht fertig.
»Du besitzt nun alle Macht«, flüstert er wieder, denn neben den gleichsam philosophisch gefärbten Dimensionen des Zeitstillstandes gebe es natürlich eine Reihe lebenspraktischer Gelegenheiten, sich den Zauber zu Nutze zu machen. Man könne, auch gerade zu guten Zwecken, jede Unterschrift erschleichen, die Uhr als Talisman in eine Quizshow nehmen und sich beliebig lange Intervalle verschaffen, in denen man nach der richtigen Antwort auf die Millionenfrage suche, man könne massiven politischen Einfluß ausüben, indem man zum Beispiel jemanden bis auf den Grund seiner Seele und für alle Ewigkeit blamiere, und sich schlußendlich, da alle Herrschaft neben der moralischen Autorität immer auch einer materiellen bedürfe, alle Güter der Welt zu eigen machen.
Ein ungewisser Glanz steht in dem Blick, mit dem er Fokko fixiert. Der aber nimmt nichts anderes wahr als den tapsigen Vogel auf der Terasse, der eben seinen Schnabel an einem Blumentopf wetzt.
»Laß uns morgen einen Spaziergang durch die Banken und Sparkassen der Stadt machen und alles Geld rausholen, das zu greifen ist. Dann haben wir Startkapital und ausgesorgt, und niemals wird uns jemand erwischen oder auch nur verdächtigen. Niemand kann uns beschreiben, weil niemand uns gesehen hat. Wir besitzen das eisernste Alibi aller Zeiten, denn wir setzen uns mit einer Hand voll Menschen um diesen Tisch, für die wir niemals verschwunden gewesen sein werden. Wir frühstücken gemeinsam, öffnen die Uhr in der Mitte eines Witzes, den ich erzähle, spazieren gemütlich in die Stadt, räumen alle Kassen leer, spazieren zurück, verstecken das Geld im alten Stellwerk, zu dem ich den Schlüssel habe, und setzen uns zurück. Dann klappen wir die Uhr wieder zu, ich erzähle den Rest des Witzes, und während diverse Kassierer ihren Verstand verlieren, lachen sich unsere Gäste schräg.«
»Das sind doch alles Gaunereien, Schwamm.«
»Wir nehmen überall nur eine Handvoll Geld.«
»Wir? Ich nehme. Du kommst in der Geschichte nur mit einem durchgeschnittenen Witz vor.«
»Was willst du denn?«
»Nichts. Einen Spaziergang machen. Aber nicht durch Banken und Sparkassen…«
»Gute Idee! Ich wollte sowieso noch zum Bahnhof, Zeitungen kaufen. Wir fahren mit dem Bus ein Stück ran und den Rest gehen wir zu Fuß.«
Fokko schüttelt stumm den Kopf, nimmt die Uhr vom Tisch, seinen Tabak, den Zettel und verstaut alles in seinem Rucksack. Schwammheimer ist ihm gefolgt.
»Du wirst diese Uhr doch nicht in dem Tornister versenken und verschimmeln lassen?«
»Ich habe schon daran gedacht, die Uhr wegzuschmeißen, Schwamm, sie einfach in den Container zurückzulegen, sie irgendwo zu verstecken oder auf den Meeresgrund sinken zu lassen. Aber ich habe Sorge, daß sie im Wasser aufklappt, daß sie doch jemand findet und mit ihr die Zeit anhält, ohne etwas zu ahnen. Und ich bin auf Gedeih und Verderb daran gekettet und geistere für ewig oder wie lange durch eine Welt im Koma. Dabei habe ich ganz andere Sorgen.«
»Welche denn?«
»Eva.«
»Vergiß Eva.« Schwammheimer ist jetzt sehr nahe, hat seinen Arm über Fokkos Schulter gelegt und flüstert wieder. »Sie ist nicht für dich bestimmt. Und erzähl ihr kein Wort von der Uhr der Skythen, sie wird dich beeinflussen wollen, sie wird dich ausnutzen, wie sie es immer getan hat. Du hast jetzt andere Möglichkeiten.«
»Hast du schon mal gesagt.«
»Man kann doch Gutes mit dem Zauber bewirken.«
»Zum Beispiel?«
»Na, ich ahne da
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