Die Uhr der Skythen (German Edition)
Fastfoodläden, auch nicht im Foyer des Kinos, aber viel weiter kann er nicht gekommen sein. An der Kreuzung steht ein Taxi vor der Ampel, die für alle Ewigkeit rot zeigen wird. Fokko rennt hin, eine korpulente Frau sitzt im Fond und scheint ihn entgeistert anzustarren. Er schlägt mit der flachen Hand auf das Wagendach, es gibt zwar einen dumpfen Ton, aber nichts rührt sich, der Fahrer sitzt lässig hinter dem Lenkrad und mustert gelangweilt die Ampel.
Was wäre, überlegt Fokko, wenn er den Chauffeur aus dem Wagen hieven, ihn irgend auf die Stufen der Hoteltreppe drapieren und sich ans Steuer setzen würde? Der Taxifahrer hat den Motor vor der Ampel garantiert nicht ausgeschaltet, im Prinzip läuft er, aber er läuft eben nicht, weil er sich der Stille des Universums hat unterordnen müssen.
Die materielle Welt ist dir untertan, hat Schwammheimer gesagt. Könnte er den Platz des Fahrers einnehmen, um das Taxi in die reale Welt zurückzuholen? Aber welches wäre der Moment? Wenn er auf dem Fahrersitz Platz nimmt? Wenn er das Lenkrad berührt oder den Zündschlüssel, wenn er den Motor neu startet? Wo beginnt sein Einfluß, wo endet er? Wenn er ein Telefon bedient, klingelt es dann am anderen Ende der Leitung? Nimmt etwa jemand ab? Und was eigentlich ist die reale Welt?
Reichlich Fragen. Die wird er später einmal klären, jetzt muß er erst den gottverdammten Jacobus Domus Spongiae finden. Er geht auf den Bahnhofsvorplatz zurück, betrachtet das winterliche Gemälde, einen neuzeitlichen Breughel, in dem sich irgendwo der Dichterfürst verbirgt, aber er ist nirgends zu entdecken. Dann fällt sein Blick auf das Bistro des Hotels. Dort drinnen sitzt Schwammheimer garantiert im Warmen, hat sich einen Kaffee bestellt, zur Feier des Tages wahrscheinlich den ersten Aquavit und hofft nun für alle Zeiten, daß er das Zentrum der Zauberkraft sei.
Wie einer der Erzengel durchschwebt er das Bistro. Die Gäste sind mit ihrem Frühstück beschäftigt und werden dennoch für ewig nicht fertig. An einer Wand hängt eine Uhr und zeigt eine sinnlose Zeit: fünf vor halb elf. Schwammheimer ist nicht da, aber er hat diese Zeit hier hinterlassen, vor zehn Minuten, vor einer Viertelstunde vielleicht, und sie wird gültig bleiben, auch wenn sie erst in drei Monaten wieder in Gang kommen sollte.
Die Menschen entschlüsseln im Zustand der Erstarrung unfreiwillig ihre Befindlichkeiten, und wenn sie inmitten einer Mahlzeit gerinnen, wirkt es wie eine in Polyester gegossene Installation von pathetischem Ekel. Fokko sieht sich die Gäste an den Tischen angewidert an und spürt seine unbegrenzte Macht wie ein schönes Gift. Einer älteren Frau mit einem Potthut, die ihre übergroße, scharlachrote Zunge für diese Zehntelsekunde so weit aus der dumpfen Höhle ihres Rachens entlassen hat, daß der Geifer in ihren Mundwinkeln glänzt, stopft er eine blassrosa Nelke in den Schlund. Einen Zweijährigen, der eben mit tomatenrotem Kopf und einem Eierlöffel in der erhobenen Hand seinen Jähzorn in die ohnmächtigen Augen seiner Eltern feuert, und in dessen eigenem Blick bereits die ganze despotische Kraft seines künftigen Lebens erstrahlt, zieht er aus dem Kindersitz, serviert ihn wie eine regionale Spezialität zwischen Rührei und Käseplatte auf dem Buffet und gibt ihm statt des Löffels eine geöffnete Tube Senf in die Hand.
Er probiert eine Weintraube. Sie schmeckt wie eine Weintraube. Ohne weiteres könnte er in einer Exkursion durch das Haus für die weiterlaufende Zeit ein apokalyptisches Chaos inszenieren, könnte sich nach Herzenslust entäußern und bereichern, am Sonntagmorgen durch die Hotelzimmer spazieren und das Elend der gewöhnlichen Intimität besichtigen.
Aber was ist, wenn er die Uhr nicht findet?
Höchstens zehn Minuten war er allein unterwegs, da hat sich Schwammheimer bestenfalls einen Kilometer entfernen können. Also wird er ihn finden. Schließlich besitzt er alle Zeit der Welt.
Draußen ist es kalt. Er denkt sich zur Mobilwurst vor dem Bahnhofsportal. Von dort ist Schwammheimer aufgebrochen, und wenn er geglaubt hat, die Distanz bestimme über den Einfluß, so wird er versucht haben, eine möglichst große Entfernung zurückzulegen, ohne Schnörkel und Schleifen. Höchstwahrscheinlich ist er die Möserstraße immer geradeaus Richtung Innenstadt gegangen. Fokko macht sich auf den Weg.
Über der Stadt steht ein hoher, lichter Himmel. Der Schnee unter seinen Schritten setzt einen dumpfen Takt in die Stille,
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