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Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out

Titel: Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natsuo Kirino
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Schultern. Satake zog sie an seine Brust. Als sie sich an ihn schmiegte, spürte sie, dass seine Haut bereits kälter war als ihre. Satakes frisches Blut verteilte sich über ihre beiden Körper.
    »Das ist mir gleich, ich will, dass du weiterlebst.«
    »Warum?«, fragte Satake sie leise. »Nach all dem, was ich dir angetan habe.«
    »Weil es wie mein eigener Tod wäre, wenn du stirbst. Mit dieser traurigen Erinnerung könnte ich nicht weiterleben.«
    »Das habe ich aber getan.« Satake schloss die Augen. Dann blieb er eine Weile stumm.
    »Aber keine Sorge, ich lasse dich nicht sterben.« Ich muss die Wunde irgendwie schließen, ich muss das Blut stillen, dachte Masako fieberhaft.
    Satakes Bewusstsein schien sich immer mehr zu entfernen. Er öffnete die Augen einen Spalt, sah sie an und fragte noch einmal: »Warum willst du, dass ich weiterlebe?«
    »Weil ich dich jetzt verstehe. Ich bin vom selben Schlag wie du. Deshalb, lass uns zusammen weiterleben!« Sie wollte ihn auf die Lippen küssen, aber alles war voller Blut. Nur seine dunklen, traurigen Augen strahlten plötzlich und sahen sie an.
    »Es ist das erste Mal, dass ich an so was denke... Wir hätten die fünfzig Millionen, immerhin. Wenn wir nach Narita zum Flughafen führen... Dann könnten wir es sogar irgendwie schaffen«, formulierte er stockend, so, als könne er sich mit Hoffnung nicht so recht anfreunden.
    »Brasilien soll ganz schön sein, hab ich gehört.«
    »Nimm mich mit.«
    »Ja, in Ordnung. Ich kann sowieso nicht mehr zurück.«
    »Wir können beide nicht zurück – vielleicht weder vor noch zurück... Also auf in die Freiheit«, murmelte er.
    »Ja.«
    Satake streckte die Hand aus und berührte sanft Masakos Wange. Seine Fingerspitzen waren eiskalt.
    »Du blutest nicht mehr. Die Wunde scheint gestillt zu sein.«
    Satake nickte nur leise, als wüsste er, dass das eine Lüge war.

9
    Masako lief durch eine Unterführung am Bahnhof Shinjuku. Ihr war nicht bewusst, dass sie lief, sie setzte nur immer wieder einen Fuß vor den anderen, den linken vor den rechten, den rechten vor den linken und so fort. In der Unterführung herrschte ein natürlicher Menschenstrom, der sie mitzog und irgendwann nach draußen vor die Sperre spülte.
    Sie bahnte sich einen Weg durch das Gedränge und bog in eine der unterirdischen Ladenpassagen ein. Der Spiegel in einem Schuhgeschäft warf ihr Bild zurück. Sie sah sich selbst, die verquollenen Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt, den Reißverschluss der Daunenjacke bis obenhin zugezogen, aus Angst, das Zittern ihres Herzens könnte nach außen dringen. Masako blieb stehen, nahm die Sonnenbrille ab und betrachtete ihr Gesicht. Die Wange, auf die Satake sie geschlagen hatte, war noch ein wenig geschwollen, aber es fiel kaum mehr auf. Die verquollenen Augen jedoch waren nicht zu übersehen. Sie hatte furchtbar geweint.
    Sie setzte die Sonnenbrille wieder auf. Ihr Blick fiel auf den Aufzug des Bahnhofsgebäudes direkt vor ihr. Ohne zu zögern stieg sie ein und drückte auf den Knopf für das oberste Stockwerk. Sie wusste nicht wohin.
     
    Der oberste Stock war die Restaurantetage. Hier würde sie sich bestimmt eine Weile unbeobachtet aufhalten können. Masako setzte sich auf eine Bank an der Wand und umfasste die schwarze Nylontasche auf ihren Knien. Darin waren die fünfzig Millionen Bargeld von Satake und die eigenen sechs Millionen.
    Masako nahm ihre Zigaretten heraus und schob sich eine zwischen die Lippen. Sie erinnerte sich daran, wie Satake den letzten Zug seines Lebens genommen hatte, und die Augen hinter der Sonnenbrille verschwammen ihr vor Trauer und Einsamkeit. Plötzlich verlor sie die Lust zu rauchen und warf die kaum angezündete Zigarette in den Ascher aus Edelstahl, der vor ihr stand. Sie fiel hinunter in den Wasserbehälter und erlosch mit einem Zischen. Ein ähnliches Geräusch hatte Satakes Zigarette gemacht, als sie ihm aus dem Mund geglitten und in die Blutlache gefallen war.

    Plötzlich konnte sie nicht mehr stillsitzen, nahm die Nylontasche und stand auf. Durch das große Glasfenster schaute sie auf die Straßen von Shinjuku hinab. Jenseits des Yasukuni-Boulevards erstreckte sich Kabuki-chō. Masako legte eine Hand ans Fenster und betrachtete andächtig die Straßenzüge des Vergnügungsviertels. Im Licht der schwachen Sonnenstrahlen dieses Winternachmittags wirkten die noch ausgeschalteten Neonschilder und die schreienden Werbetafeln müde und blass. Wie eine schlafende Bestie lag das

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