Die Unbekannten: Roman (German Edition)
vielversprechender Einjähriger war an Urtikaria erkrankt – Nesselausschlag, wie die älteren Stallburschen es nannten. Diese allergische Reaktion würde mit der Zeit von selbst zurückgehen, aber Cammy konnte dem Tier eine Antihistaminspritze geben, um ihm Linderung zu verschaffen.
Am Ende des Gartens waren in einem dritten Gebäude die Sattelkammer und das Büro des Trainers Nash Franklin untergebracht. Die Unterkünfte der Pferdepfleger befanden sich in der Etage darüber.
In Nashs Büro brannte Licht. Die Tür stand offen, aber Cammy traf niemanden an. Der riesige Raum für das Sattel- und Zaumzeug erwies sich ebenfalls als menschenleer.
Im ersten Stall fand Cammy die Türen der Boxen zu beiden Seiten des Mittelgangs offen vor. Die Pferde waren fort.
Als sie wieder hinausging, hörte sie Stimmen und folgte ihnen zu der eingezäunten Wiese an der Nordseite des Gebäudes.
Die Vollblüter waren auf der Weide: die Einjährigen, die Fohlen, die Zuchtstuten, die Deckhengste, die derzeitigen Rennpferde, insgesamt mindestens vierzig Tiere. Cammy hatte sie noch nie zuvor alle am selben Ort versammelt gesehen und konnte sich nicht vorstellen, zu welchem Zweck man sie alle zusammengebracht hatte.
Viele der Pferde wurden von ihren Lieblingen begleitet. Da sie nervöse, sensible Geschöpfe sind, neigen Vollblüter dazu, glücklicher und ruhiger zu sein, wenn sie einen kleinen tierischen Gefährten haben, der stets in ihrer Nähe ist und sogar ihre Box mit ihnen teilt. Ziegen übernehmen häufig diese Rolle, manchmal auch Hunde. Aber auf der Wiese waren auch einige Katzen und sogar eine Ente vertreten.
Das Seltsamste an der Szene war nicht die bloße Versammlung der ganzen Herde samt ihrer Menagerie. Als Cammy durch das Tor auf die Weide trat, fiel ihr auf, dass jedes einzelne der Tiere nach Westen gewandt stand, zu den Bergen hin. Alle hielten außergewöhnlich still.
Mit erhobenen Köpfen und starrem Blick schienen sie weniger etwas anzustarren als zu … lauschen.
Plötzlich wurde ihr klar, dass sie gerade Zeugin einer ähnlichen Szene wurde wie die, die Ben Aikens ihr beschrieben hatte: Als die geretteten Golden Retriever in
ihrer Abwesenheit aufgestanden waren, um auf etwas zu horchen, das keiner der anwesenden Menschen hatte hören können.
Das schräg nach Osten strahlende Sonnenlicht fiel auf die Gesichter der Pferde. Schwarze Schatten flossen von ihren Köpfen nach hinten wie Verlängerungen ihrer Mähnen, flossen von ihren Rümpfen und Schweifen und erstreckten sich über das Gras in östlicher Richtung, während die Pferde sehnsüchtig gen Westen lauschten.
Auf der Weide befanden sich auch ein halbes Dutzend Pferdepfleger. Dazu Helen und Tom Vironi, die Besitzer der High Meadows Farm.
Die Menschen bewegten sich, sichtlich perplex, zwischen den Tieren, berührten behutsam die Vollblüter und sprachen leise mit ihnen, doch die Tiere schienen sie überhaupt nicht wahrzunehmen.
Ziegen, Hunde, Katzen und die Ente waren gleichermaßen verzaubert und schienen genauso auf etwas zu horchen, das nur Tiere hören konnten.
Da er groß genug war, um einem Pferd selbst dann in die Augen zu sehen, wenn es mit erhobenem Kopf dastand, entdeckte Nash Franklin Cammy. Sie und der Trainer gingen aufeinander zu.
»So verhalten sie sich jetzt schon seit fast fünfzehn Minuten«, sagte Nash. »Angefangen hat es mit ein paar von ihnen auf dem Übungsplatz und ein paar anderen auf der Weide.«
Nach Angaben ihres Veterinärtechnikers Ben Aikens hatten die Golden Retriever nur etwa eine Minute lang verzückt wie in Trance dagestanden.
Nash sagte: »Die in den Ställen haben begonnen, so fest gegen die Wände um sie herum zu treten, dass wir uns Sorgen gemacht haben, sie würden sich verletzen.«
»Sie haben sich vor etwas gefürchtet?«
»So kam es uns nicht vor. Eher, als seien sie … wild entschlossen, nach draußen zu kommen. Wir wussten nicht, was los war. Wir wissen es immer noch nicht.«
»Ihr habt sie rausgelassen?«
»Wir hatten das Gefühl, wir müssten es tun. Sie haben sich schnurstracks auf die Weide begeben, um bei den anderen zu sein. Und sie lassen sich nicht fortführen. Was geschieht hier bloß, Cammy?«
Sie ging auf das erstbeste Pferd zu. Es war Gallahad. Das Fell des prachtvollen Dreijährigen war dunkel mahagonifarben, fast schon schwarz, und er wog etwa fünfhundertfünfzig Kilo.
Wie die anderen Pferde wirkte Gallahad in seiner vollkommenen Ruhe angespannt und steif, doch als Cammy seine Flanke
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