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Die undankbare Fremde

Die undankbare Fremde

Titel: Die undankbare Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irena Brezna
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und ermahnte mich noch mehr. Im Herzen blieben sie passionierte Heimleiter für Schwererziehbare.
    In den Hinterhof kam ein ausgehungertes Kätzchen. Wer würde es nicht füttern? Am nächsten Tag miaute es mich wieder an. Nach ein paar Tagen stellten mich die Nachbarn zur Rede. Wie könne ich es wagen, ein fremdes Kätzchen daran zu gewöhnen, hier heimisch zu werden?
    »Man wisse doch: zuerst ein Miezchen, dann Horden von Katzenfötzeln.«
    »Aber wo seht ihr ganze Horden?«
    »Heute eines, morgen viele. Wo kämen wir hin, wenn wir Ausnahmen dulden würden? Katzen gehören jemandem oder man bringt sie ins Tierheim.«
    Doch ich brachte stattdessen dem heimatlosen Kätzchen weiterhin Futter und nicht einmal tiergerechtes. Keine Katzenexpertin mit einem behördlichen Auftrag, fähig, die Situation langfristig so zu lösen, dass sich daraus keine Katzenplage entwickeln würde. In unserer Diktatur hatten wir Katzen füttern dürfen ohne staatliche Erlaubnis. Meine Nachbarn stellten ein Schild in den Hinterhof: »Katzen füttern verboten.« Nun warf ich Essbares aus dem Fenster, wurde entdeckt und beim Hausverwalter denunziert. Es kam ein eingeschriebener Brief, mir wurde mit einer gerichtlichen Klage gedroht. Ich trug das Essen nur noch nachts hinaus. Eines Morgens würde das blutige Katzenfell vor meiner Tür liegen. Aber das geschah nur in meinem Kopf. So blutig ging es hier nicht zu.
    Wie ich inmitten der umzäunten Welt ins Rasen kam! Aus den Zusammenstößen wurde kein Anhalten, kein Drosseln der Geschwindigkeit, sondern die Bewegung selbst. Die Einheimischen blieben vorerst stehen, sie wähnten sich doch am Ziel. »Wir haben es so gut«, sagten sie und schämten sich ein wenig, dass sie es so gut hatten und wollten, dass ich ihre Art nachahmte, dann hätte auch ich es so gut, dann müssten sie sich nicht schämen. Das war für abgerichtetes Hausgefieder brauchbar, für einen jungen Raubvogel war es eine Voliere. All meine Erfahrung sollte ich vakuumiert einpacken, als gefährlichen Abfall entsorgen und bei null anfangen. Ich schaute die Einheimischen mitleidig an, als wäre ihre Anmaßung eine Krankheit. Da stand Mitleid gegen Mitleid.
    Und sie schoren mich kahl und verpackten mich in sterile Döschen. Nein. Ihrer Zwangsneurose stellte ich meine Hysterie entgegen, rannte schreiend davon. Die wilde Natur aufzugeben hieße, nicht mehr zu sein. Ich war rohes Fleisch, und darüber trug ich widerborstiges Fell. Nur nicht so werden, wie es hier Sitte war, abgekocht und gevierteilt. Ich wusste noch nichts von Verwandlungen und kämpfte für den Erhalt meiner Instinkte.
    Zuerst sehe ich einen enormen Bauch, daneben baumelnde Arme, erst dann starre Augen und eine vom Schicksal breitgedrückte Nase, durch die der Patient schwer atmet. Der Körper des Psychiaters ist das Kontrastprogramm: Ein durch Bodybuilding gestählter Oberkörper im eng anliegenden ärmellosen T-Shirt, und der dichte schwarze Haarschopf ist hinten in einem Pferdeschwanz gezähmt. Wenn er zum Selbstmörder sagt: »Ich bin traurig, dass es Ihnen schlecht geht«, wirkt seine professionelle Trauer allzu gesund.
    Der Patient antwortet aus der Ferne mit einer einminütigen Verzögerung wie in einem Telefongespräch aus Übersee:
    »Ich falle, ich falle.«
    Eine schreckliche Müdigkeit bremst den Worttransport. Aus seinem kriegsversehrten Land ist er gekommen, jetzt will er nicht mehr weiter.
    »Wenn ich mich umbringe, wirst du es nicht merken, selbst wenn du neben mir sitzen solltest.«
    Der Psychiater macht auf beleidigt und fasst ihn am Arm:
    »Ich lasse Sie nicht aus den Augen. Ich kümmere mich um Sie.«
    »Am Freitag packe ich meine Sachen zusammen, und ihr seht mich nicht mehr.«
    »Das Antidepressivum hat eine lange Anlaufzeit, vor Freitag wird es keine Wirkung zeigen.«
    »Freitag ist doch nicht Freitag, Freitag kann Montag oder Mittwoch sein«, biete ich mein interkulturelles Wissen an.
    In der Kultur des Patienten ist die Zeit verhandelbar.
    Doch der Psychiater mustert mich misstrauisch. Ich zerstöre feste Begriffe: Freitag war immer Freitag, auf den Patienten war Verlass. Es dauert eine Weile, bis der Psychiater darauf vertraut, dass Freitag nicht Freitag ist.
    Am Montag ruft er mich an:
    »Der Patient ist noch da, wir brauchen Sie.«
    Da sitzt der Kranke und gähnt, ohne die Leere mit der Hand zu verbergen, und kaut an seinem Speichel.
    »Haben Sie immer noch Selbstmordgedanken?«
    »Was? Das höre ich zum ersten Mal. Na warte, wir reden noch

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