Die undankbare Fremde
Wenigstens kamen wir endlich ins Gespräch. Nicht, dass es hier an Selbsterkenntnis mangelte. In düsteren Stunden wurden sich manche ihrer selbst überdrüssig, hegten Zweifel an ihren besten Eigenschaften. Doch die Kinderstube lässt sich nicht einfach wegputzen.
»Warum kommen Sie zu uns?«, fragt die Psychiaterin.
»Ich war Sklavin, zehn Monate lang.«
Die Patientin erzählt ihre Geschichte in kurzen, klaren Sätzen, wofür ich ihr dankbar bin. Die Konzentration auf die sprachliche Vermittlung hilft mir, die aufsteigenden Ängste im Zaum zu halten. Ich erkenne ein schweres Trauma an der Art, wie die junge Frau ihren Körper trägt, als wäre er ein geliehenes Kleid. Die Seele hat sich irgendwann von ihrem weiblichen Körper verabschiedet, von dieser willenlosen Partnerin, die sie verraten hatte. Der Körper wurde geopfert, um die Seele zu retten. Jetzt finden sie nicht mehr zusammen. Wenn die Patientin etwas von ihrem Körper wahrnimmt, dann nur Schmerz.
»Der Nacken tut mir weh.«
Den Blick geradeaus, als hätte sie Scheuklappen. Eine lebensnotwendige verengte Sicht, energiesparend. Im Flüchtlingsheim mag man sie nicht. Nachts schreit sie, und wenn man es ihr vorwirft, weiß sie nichts davon. Sie zankt sich mit allen, beschwert sich über Kinder, die auf Dreirädern im Flur herumfahren. Sie teilt sich das Zimmer mit sieben Andersgläubigen, die unverständliche Gebete murmeln. Das hält sie für eine Zumutung. Sie wirkt überheblich, kann Neues nicht aufnehmen, übervoll ist sie von dem, was war. So viele Nationen, laute Stimmen, sie verlangt ein eigenes Zimmer:
»Ich habe Schlimmes erlebt.«
Man hält ihr entgegen:
»Wer hat denn nicht Schlimmes erlebt?«
Sie hört Stimmen, die sie beim Namen rufen, dreht sich um, aber dort ist niemand. Kürzlich ging sie auf der Straße, ohne zu bemerken, dass sie ging. Sie hat sich selbst verlassen. Sie wundert sich darüber. Manchmal sieht sie eine Gestalt auf der Straße, die sich sogleich auflöst, und eine übermächtige Kraft drückt sie zu Boden. Die Psychiaterin will erfahren, ob die Patientin auch Selbstbestimmung erlebt hat. Davon hängen ihre Therapiechancen ab.
»Haben Sie sich gewehrt?«
»Wie denn? Ich war immer im Zimmer und wurde oft geschlagen, auf die Beine, die Nieren.«
»Wer waren diese Männer?«
»Leibwächter und Politiker. Einige Gesichter kannte ich vom Fernsehen. Ein Teil ihrer Einnahmen kommt aus dem Frauenhandel.«
»Zur Ausbildung der Polizeikräfte und Spezialeinheiten gehört der gezielte Schlag auf die Niere«, erkläre ich der Ärztin. Doch sie ist keine Kriminalbeamtin, die für die Abklärung des Falles solche Beweise braucht.
»Auch den Präsidenten habe ich dort gesehen«, sagt die Patientin.
Ob die Psychiaterin dies als Delirium erkennt? Es mag bloß eine harmlose Verwechslung sein. Ihr Präsident hat nämlich ein Dutzendgesicht.
Die Patientin spricht vom Mann wie von einer anderen Art. Je mehr Männer sie missbrauchten, umso schuldiger wurde sie. Nicht der Täter schämt sich. Den Ausweis hat man ihr gleich weggenommen, hätte sie einen, wäre sie ein Mensch. Als sie nach dem Grund fragte, wurde sie aufgeklärt:
»Du wirst ihn nie mehr brauchen, wir erledigen dich bald.«
Die Sklavin sollte ins Ausland verkauft werden, in einem Hotel befahlen ihr drei ausländische Käufer, sich auszuziehen, und als sie später mit dem Leibwächter alleine geblieben war, habe sie ihm einen Stuhl auf den Kopf geschlagen. In Shorts sei sie im Schnee um ihr Leben gerannt.
Es gibt einen Mann, der ihre Freiheit achtete. Er organisierte und bezahlte den Transport. Sie saß hinter der Fahrerkabine eines Lastwagens, geschützt durch eine zweite Wand. Eine übliche Schmuggelart. Der Fahrer hielt ab und zu im Wald an, sie wusch sich und aß. Nach drei Tagen lud er sie aus:
»Jetzt schau selbst, wie du zurechtkommst.«
Als Kind wollte sie Richterin werden, Verbrecher ins Gefängnis befördern, doch sie brach die Schule ab. Die Mutter war Köchin in der Schulkantine. Sie hatten es gut zusammen, nachdem der Vater ausgezogen war. Männer waren in ihrem Kaff zu nichts zu gebrauchen. Die Schnapsflasche ersetzte den Schoppen, und mit dem Bartwuchs kam die Einberufung in die Armee. Danach wanderten sie wegen Diebstählen und Schlägereien ins Gefängnis und starben frühzeitig. Einige Jungs hielten sich stramm, blähten den Brustkasten auf.
Die Mutter warnte:
»Lass dich nicht mit der Mafia ein.«
Mit dreiundzwanzig beschloss sie, in die
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