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Die undankbare Fremde

Die undankbare Fremde

Titel: Die undankbare Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irena Brezna
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jedes Mal selbst hinzu. Da war ich wieder ich selbst.
    Der Gerichtssaal, an vieles gewohnt, ist schmuddelig, die Luft darin verbraucht, der Spannteppich, die Holzstühle und die langen Tische sind abgewetzt, nur der mutmaßliche Dieb ist aufmüpfig, er pulsiert. Schließlich ist er das Herz des Geschehens und steht in der Mitte des Raumes. Der Richter fragt über die Maßen traurig, ob der Angeklagte denn wisse, wie das Fleisch heiße, das er gestohlen haben soll. Der hochgeschossene junge Mann weiß es nicht und behauptet, er habe es nicht gestohlen, das sei der andere gewesen, der dann geflüchtet sei. Wenn der Richter aus der dicken Akte vorliest, übersetzt er aus der Hochsprache in den lokalen Dialekt. Er will damit sagen: Wir, die Alteingesessenen, sind unter uns, wir stellen die Regeln auf.
    »Sie sind vorbestraft.«
    »Das ist Vergangenheit, heute bin ich ein anderer.«
    Seine modische Erscheinung, das mit Gel nach oben gestylte Haar machen ihn hier auch nicht heimischer.
    »Warum tragen Sie eine Zange bei sich?«
    »Ist das etwa verboten? Ist eine Zange etwa eine Waffe?«
    Der Richter seufzt:
    »Mit der Zange kann man die Sicherheitsmarken von Produkten entfernen.«
    Der junge Mann ist fürs Nehmen ausgerüstet. Der Richter sieht den Grund dafür in der Kindheit.
    »Ich weiß, Sie hatten es schwer. Ihre Mutter starb bei der Geburt, der Vater fiel im Krieg.«
    Die Detektivin aus dem bestohlenen Supermarkt erklärt ängstlich unter Eid, dass sie mit eigenen Augen beobachtet habe, wie der Angeklagte zwei Kilo Lammfleisch in den Rucksack gestopft habe. Der Richter nickt besorgt
    und spricht das Urteil:
    »Sieben Tage Gefängnis.«
    Der Angeklagte wirft sich auf die Knie und breitet die Arme aus:
    »Ich bin unschuldig! Ich schwöre es bei meiner Mutter!« Dann besinnt er sich, dass er sie für tot erklärt hat. »Beim Andenken an sie.«
    Der Richter und der Gerichtsschreiber machen je zwei Schritte zurück. Die Detektivin duckt sich in die Ecke. Eine Theatralik, die man hier nur aus Romanen kennt, bricht in die gewohnte Ordnung. Ich trete näher an den Burschen heran. Er stürzt sich schluchzend in meine Arme, und ich streichle ihn lachend:
    »Ach, Pfötchen, das ist doch nichts, nur sieben Tage.«
    Bald darauf entschuldigt er sich für die Tränen.
    »Wie haben Sie ihn genannt?«, fragt mich der Richter.
    »Pfötchen.«
    »Aha, Langfinger«, beruhigt er sich.
    »Pfötchen ist ein Kosewort wie Herzblatt.«
    Da tritt er zwei Schritte zurück.
    Wir verlassen das Gerichtsgebäude, und der junge Mann sucht nach dem taktilen auch einen moralischen Halt bei mir:
    »Das Flüchtlingsheim ist voll von Feinden, gegen die wir Krieg geführt haben. Es ist unerträglich, sie haben meinen Vater getötet.«
    »Und was hatte dein Vater in ihrem Land zu suchen? Er hat seinerseits getötet.«
    »Das war Befehl.«
    »Einen Befehl kann man verweigern.«
    »Einen Befehl verweigern?«
    Der Aufmüpfige buchstabiert die Ungeheuerlichkeit und tritt drei Schritte zurück.
    Die Einheimischen liebten es, die Fremden mit ihren Dialekten zu bewirten, eine Mundartspeise nach der anderen. Sie führten uns von Tal zu Tal, von Dialekthof zu Dialekthof. Bündig, steinig wurde hier gesprochen. Unvertraute kratzende Kehllaute ertönten. Die Sprache tänzelte nicht in Parkettsälen, sie kannte keinen Müßiggang, den Schöpfer der Eleganz. Sollte ich meine Lackschuhe abstreifen? In den engen Dialekttälern war eine andere Lebenserfahrung kodiert als die meine. Ich war keine beschauliche Sommergästin, die sich an ihren pittoresken Lauten hätte erfreuen können, sondern verdammt dazu, mich hier einzurichten. Der Dialekt war der Geruch der Sippe, ihr Erkennungsmerkmal. Wer nicht nach Dialekt roch, blieb ein fremder Fötzel. In ihm sah man nicht den Gast, der Ferne und Weihrauch bringt. Die Dialekte kannten keinen Flug um des Fliegens willen, nur Bodenhaftung. Viele Zuwanderer hatten Mühe, den Dialekten das Eigene hinzuzufügen und Neologismen zu erschaffen, sich darin selbst und die Welt Schicht um Schicht zu erweitern.
    Ich wollte die Schriftsprache, sie roch nach nichts, ein leeres, weiß getünchtes, mehrstöckiges Haus, mit geräumigen Zimmern und hohen Decken. Hier wollte ich einziehen und Sprachbälle veranstalten. Vielen Einheimischen war ihre Hochsprache suspekt, sie kam nicht von unten aus dem Bauch, sie empfanden sie als abstrakt und antiseptisch. Auch für mich war sie Kopfsprache. Ihr Resonanzboden füllte nicht den ganzen Körper aus wie

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