Die undankbare Fremde
Ich gebe Ihnen die Hausaufgabe, täglich einem Passanten in die Augen zu schauen, damit er die Last von Ihnen abnimmt.«
Ich überwinde mich, blicke dem Psychiater in die Augen, tauche in einen grünen Teich ein und werde leicht.
Beim Abschied sagt er zu mir:
»Ich habe diesen Fall übernommen, weil ich noch nie mit einer Dolmetscherin therapiert habe. Es ist eine interessante Erfahrung. Ich werde einen wissenschaftlichen Artikel darüber schreiben.«
Ich legte mir einen Liebhaber zu, traf ein neues Volk. Nachlässige Gangart, aus dem Rahmen fallende, wild gestikulierende Arme, dicker oder feiner Akzent, anders gefärbte Haut, das seelische Hinken der Entwurzelten aller Länder. Es fiel ein Wort, ein Blick des Erkennens, und schon erreichte mich die Wärme, die aus dem Fremdsein des anderen strömte. Ich fand Aufnahme im gemeinsamen Fremdsein, ließ mich treiben im Fahrwasser der Fremde. Eine Sprache mit tausend Akzenten wurde unsere Vatersprache. Entbunden vom Gebot der Höflichkeit gegenüber dem Gastland zogen wir höhnend darüber her, spotteten, erschufen Theorien, irrten uns, übertrieben maßlos, trafen ins Schwarze, lachten schallend, winkten ab. Wir waren unter uns, niemand bestrafte uns mit dem gefürchteten Satz: »Wenn es dir nicht gefällt, dann geh doch zurück.«
Ich fand sie, die Heimat des Motzens. Ich fand ein neues Wir. Da war sie, die Meinungsäußerungsfreiheit. Nicht per Gesetz garantiert, wir lebten sie im Untergrund wie in den Diktaturen, aus denen wir geflüchtet waren. Wir kosteten von den verbotenen Früchten der lästernden Erkenntnis und waren längst nicht mehr im Paradies. Wie es unter der polierten Oberfläche brodelte, gekränkte Gefühle, feindselige Gedanken schwirrten umher, der Aufruhr der Einwanderer braute sich zusammen und brach doch nie aus. Wir trugen den Protest nicht hinaus, er fand weder auf Tribünen noch auf Bildschirmen statt. Näherte sich uns ein Einheimischer, verstummten wir, als hörte ein Agent der Staatssicherheit mit. Wir setzten harmlose Mienen auf, geübt im Tarnen.
Das Volk der Fremden lebte hier ohne hörbare Stimme. Wir hätten endlich sagen sollen: »Wir sind hier! Ihr müsst mit uns rechnen, mit unserer Andersartigkeit, wir wollen euch nicht nur nacheifern, wir finden bei euch nicht alles erstrebenswert. Es ist unmöglich, auf Dauer dankbar zu sein. Das ist ein künstliches Leben. Wir wollen Echtheit.« Wären wir bloß aus dem Untergrund aufgetaucht und hätten die Alteingesessenen zu einer Nationalfeier eingeladen und unser Wissen, unsere Befindlichkeiten, Dummheiten, berechtigte Forderungen und Sehnsüchte preisgegeben. Doch wer in der undankbaren Fremde hätte uns zuhören wollen? Wir waren ein uneiniges Volk, unorganisiert, unrevolutionär, geschwächt von Minderwertigkeitsgefühlen, unsicher in der neuen Sprache, geduckt unter den fremden Regeln, geplagt vom Heimweh, willig, uns anzupassen bis zum Verlust der Würde, einig und aufmüpfig nur im geheimen Motzen.
Mitten im Lästern sagte plötzlich jemand: »Aber nicht alle sind so, ich kenne jemanden ...« Die geschlossenen Fronten weichten sich auf, so mancher wurde zum Überläufer, bewegte sich in mehreren Welten. Auch etliche Einheimische gerieten in den Vielvölkerstrom, sie waren sowieso nur graduell einheimisch. Außenseiter, Fremde im eigenen Land stießen zu uns:
»Gut, dass ihr da seid. Unsere Landsleute haben uns vom Seil heruntergestoßen. Ihr habt uns aufgefangen.«
Der eiserne Vorhang, an dem ich geistig festgehalten hatte, war verschwunden, noch bevor der wirkliche abgebaut wurde. Dialoge entstanden, und sie waren kein Heimatbrei, der im Wundertopf überkocht.
Als ich mit dem Fahrrad auf dem Gehsteig fuhr, rief die Passantin diesmal keine Drohungen, sondern lächelte mir zu. Wer war sie? Und für wen hielt sie mich? Zunehmend dachten die Fremden, ich sei eine Einheimische, und sie dankten mir überkorrekt, entschuldigten sich vorbeugend, entschuldigten sich dafür, dass sie überhaupt da waren. Outete ich mich als Ausländerin, lachten wir, verlachten die Vorstellung von In- und Ausländer.
Auch im Volk der Fremden waren nicht alle gleichberechtigt. Es war eine Clangesellschaft von ethnischen Gruppen. Nach einer Hackordnung schauten jene, die schon länger hier waren, auf die Neuankömmlinge herab. Ich lehnte es ab, mich ethnisch einfangen zu lassen: »Ich heiße Emigrazia. Meine Heimat ist Ausländerin. Von hier lasse ich mich nicht mehr emigrieren.«
Damals vor der
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