Die Unermesslichkeit
festzuzurren.
Kein Ausweg mehr. Hände gebunden, auf den Blöcken balancierend, Schlinge um den Hals. Schneller, schwerer Atem, Panik, verkrampftes Herz. Blut und Angst. Nicht die Ruhe, die sie erwartet hatte. Kein Gefühl von Frieden. Sie wollte das nicht. Jede Faser sagte ihr, dass es falsch war. Aber dann trat sie sich weg, schubste sich selbst in die Luft, schrie aus tiefster Lunge, ein trotziger Schrei, dann schnappte die Schlinge zu, und zuerst fühlte es sich nicht so fest an, aber dann zog es mit schrecklichem Gewicht, alle Muskeln zerrten, ein scharfer Schmerz, die Luft weg, die Kehle zerdrückt, und sie baumelte an diesem kalten, leeren Ort. IhreHände kämpften aufwärts, festgehalten, und sie würde sich niemals verzeihen.
Rhoda würde diejenige sein, die zur Tür hereinkam und das hier vorfand. Das wusste Irene jetzt. Sie wusste nicht, wieso ihr das nicht vorher klar geworden war. Sie fühlte sich ausgetrickst. Sie tat Rhoda genau das an, was man ihr angetan hatte. Ein kalter Tag, bedeckt, genau wie dieser, ihre Mutter, die von einem Dachsparren hing, im Sonntagsstaat, beige und cremeweiß mit Spitze, ein Kleid, das von weit her aus Vancouver kam, Irene erinnerte sich jetzt daran, weiße Strümpfe, braune Schuhe. Aber das Gesicht ihrer Mutter, die Furchen in ihrem Gesicht, ihre Traurigkeit, der abartig gedehnte Hals. All das konnte nie ausgesprochen werden. Irene wusste jetzt, dass es nicht schnell gegangen sein konnte, dass ihre Mutter gewusst haben musste, was sie da tat. Genügend Zeit, um zu erkennen, was sie ihrer Tochter antat.
R hoda stand am Ufer, während Mark Hände voll Steinsalz auf die Rampe warf. Wie Reis auf einer Hochzeit. Vor lauter Dringlichkeit blieb ihr beinahe die Luft weg. Sie wollte Mark anbrüllen, er solle sich beeilen, wusste aber, dass das nicht ging, also stand sie am Rand und blickte aufs Wasser, wartete darauf, dass die Zeit verstrich. Sie konnte die Insel vor dem gegenüberliegenden Ufer fast ausmachen. Wasser und Luft merkwürdig ruhig, nur sehr kleine Wellen, bedeckt mit tief hängenden Wolken, aber die Wolken wirkten unbewegt, im Himmel verankert. Stemmten sich gegeneinander, sperrig und dunkel.
Wir warten nur noch ein paar Minuten, bis das hier schmilzt, sagte Mark, und dann sind wir startklar.
Rhoda konnte nicht antworten, sich nicht mal umdrehen. Sie wusste, sie würde ungeduldig klingen, und dann gäbe es Streit mit Mark.
Okidoki, sagte er. Ich bin im Truck.
Rhoda böse auf ihre Mutter, weil sie gesagt hatte, eines Tages werde auch sie allein sein, ihr Leben vorbei, ohne dass sie etwas vorzuweisen habe. Wie konnte man so was sagen? Und das auch noch unmittelbar, nachdem sie ihrer Mutter mitgeteilt hatte, dass sie heiraten werde. Ein frühes Hochzeitsgeschenk. Aber ihre Mutter war so. Grob und nicht sehr behutsammit den Gefühlen anderer. Jedenfalls nicht in letzter Zeit.
Rhoda hatte das Satellitentelefon und die Batterien, doch inzwischen wollte sie mehr. Sie würde ihre Eltern bitten, mitzukommen, die Insel zu verlassen. Die Hütte und die Insel taten ihnen nicht gut. Das Ganze war ein Fehler. Sie brauchten ihr Haus, und sie brauchten andere Menschen. Rhoda würde sie jeden Tag besuchen kommen.
Rhoda trat näher ans Wasser. Eine kleine Eiskrause, gebrochen und aufgeschichtet von den Wellen. Der Beginn größerer Risse und Spalten, die über den Winter am Ufer entlang entstehen würden, aber jetzt war da nicht viel. Stellen mit klarem Wasser bis hin zu den dunklen Steinen am Strand, das Eis uneben. See und Eis ständig in Bewegung. Einige untergetauchte Stücke, hüpfende Miniatureisberge.
Nächste Woche würde das alles schmelzen. Wärmeres Wetter, jedenfalls für kurze Zeit, und dann richtig kaltes, ein früher Winter. Sie musste dafür sorgen, dass sie vorher zurückkamen.
Mark ließ bereits den Pickup laufen wegen der Heizung, aber Rhoda hörte, wie er den Rückwärtsgang einlegte, dann hörte sie die Reifen, als er das Boot auf die Rampe setzte. Sie sah zu, wie Boot und Anhänger ins Wasser rutschten, in die Kälte, wie die Räder das Eis zerdrückten.
Dann hielt sie das Tau fest, während er den Wagen abstellte, und sah ihn vom Parkplatz zurückkommen. Er trug diese alberne Hello-Kitty-Jacke, von Jasongeliehen. Und seine Russenmütze mit den Ohrklappen. Jeder Tag ein Witz für Mark, sein Leben ein Scheißwitz. Und sie musste nett zu ihm sein, weil sie seine Hilfe brauchte.
Was?, fragte er, als er näher kam. Warum siehst du mich so
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