Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
eines Abends kam er sogar mit uns in einen Nachtclub. Ich stellte fest, dass seine strenge Art kein Wesenszug von ihm war. Er trat so auf, weil das Management der Ansicht war, dass es eine harte Hand brauchte, um die Praktikanten zu Offenheit und Ehrlichkeit zu erziehen, aber auch um ihre Kreativität und ihren Teamgeist zu fördern – alles Eigenschaften, die ein zukünftiger Nachwuchsanalyst mitbringen musste. Gleichzeitig waren das die Eigenschaften, die Kunden bei einem Berater schätzten – und die Offenheit stand dabei an erster Stelle. Die Kunden wollten nicht, dass man ihnen etwas vormachte. Sie wollten, dass man ihnen die Wahrheit sagte.
Was Val am meisten hasste, war jede Art von Herumgedruckse. Wer etwas nicht wusste, sagte am besten geradeheraus: «Keine Ahnung, finde ich aber raus.» Wir sollten lernen, dass ein verärgerter Kunde am Telefon keine Ausflüchte oder schwammigen Antworten hören will. Er will, dass man der Frage kompetent nachgeht und ihn fünf Minuten später wieder zurückruft. Wer bei einem Open Meeting eine Antwort schuldig blieb, musste umgehend mit dem Aufzug nach unten fahren, die Broad Street überqueren und rüber in den Handelssaal laufen, um sich die Antwort zu besorgen, und damit noch vor Ende der Sitzung zurückkommen. Da wir im Praktikum nicht zuletzt durch die verschiedenen Abteilungen des Handelssaals geschleust wurden, wurde auf diese Weise getestet, ob wir gute Beziehungsarbeit leisteten. Wir brauchten Verbündete, Menschen, an die wir uns wenden konnten, wenn wir im Schlamassel steckten. Mentoren. Schließlich konnten wir nicht einen leitenden VP wie Val so einfach aus einer wichtigen Angelegenheit herausreißen. «Lassen Sie mich in Ruhe!» wäre vermutlich noch die höflichste Reaktion gewesen.
Nach jedem Open Meeting wurde dessen Verlauf vom Moderator bewertet. Hatte er gute Antworten bekommen? Hatten die Kandidaten, die Informationen beschaffen mussten, die nötige Initiative gezeigt? Ein paarmal kam es vor, dass die Leiter eine Sitzung verheerend fanden. Das hatte die gleichen Konsequenzen wie zu häufiges Zuspätkommen: Wir mussten am nächsten Morgen um fünf Uhr antreten – oder manchmal auch spätabends, ganz gleich, ob wir privat verabredet waren. Wir sollten daraus lernen.
Die Sitzungen waren hart, aber ich muss gestehen, dass sie mir durchaus Spaß machten. Mir gefiel, dass Goldman Sachs seine Unternehmenskultur so ernst nahm. Ich fand gut, wie eindringlich uns vermittelt wurde, dass wir Kunden korrekt informieren mussten. Erzählt den Kunden keinen Mist! Das wurde uns in den Open Meetings eingetrichtert. Versprecht ihnen nicht das Blaue vom Himmel. Bleibt sachlich. Seid offen und ehrlich. Wenn ihr etwas nicht wisst, findet es möglichst geschickt heraus. Mehr wird nicht verlangt. Und wenn ihr einen Fehler macht, gebt ihn zu. Sofort. (Das predigt Goldman seinen Analysten bis heute: Wenn ihr einen Fehler macht, vor allem im Handel, gibt es nichts Schlimmeres, als ihn zu verheimlichen. Wer nicht gleich reinen Tisch macht, verursacht unweigerlich weit größere finanzielle Verluste – und verspielt damit seine Glaubwürdigkeit bei den Kunden.)
Zwei Tage vor einem Open Meeting setzten sich die Praktikanten zum Lernen zusammen. Jeder befasste sich mit einem anderen Marktbereich. Wir prüften uns gegenseitig und dachten uns mögliche Fragen aus. Dass wir zehn Wochen lang zweimal die Woche so erbarmungslos zur Brust genommen wurden, schweißte uns zusammen. Und Teamgeist stand bei Goldman Sachs als Unternehmenswert hoch im Kurs.
Mir war klar, dass man uns nach allen Regeln der Kunst indoktrinierte, doch ich hatte nichts dagegen. Ich war schon bekehrt gewesen, bevor ich die Firma das erste Mal betrat. Man sah es mir vielleicht nicht am Outfit an, doch ich war überzeugt davon, dass ich mich mit der gleichen Berechtigung um eine Stelle bei Goldman Sachs bewarb wie jeder andere.
Hätte man mich damals im Sommer 2000 gefragt, wer die Brooks Brothers waren, hätte ich geantwortet: die beiden kleinen Rabauken aus unserer Straße. Am Tag vor dem Abschluss meines dritten Studienjahrs in Stanford war ich zu Macy’s nach Palo Alto gefahren und hatte mich neu eingekleidet – mit acht Hemden, drei Paar Hosen und einem blauen Blazer mit Goldknöpfen. Ich hatte noch ein paar Anzüge aus dem vorigen Sommer, als ich bei der Maklerfirma Paine Webber in Chicago ein Praktikum gemacht hatte. Mein Lieblingsstück war ein hellgrauer Anzug im Miami Vice -Look aus einem
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