Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
18 : 03 Uhr oder um 18 : 05 Uhr auf und mussten dann draußen warten. Verspäteten sich zu viele, hatten wir alle am nächsten Morgen um fünf Uhr zu einer Ersatzveranstaltung anzutanzen. Der Managing Partner ebenfalls. Wieder galt: Wer fünf Minuten zu spät kam, der wartete draußen. Das wurde streng gehandhabt. Es gab Leute, die es einfach nicht pünktlich schafften, was kein gutes Licht auf sie warf.
Die Praktikanten nahmen an langen Tischreihen Platz. Vor sich hatten sie einen Block liegen mit ihren Notizen, die sie sich zur Vorbereitung gemacht hatten. Vorn saß der Sitzungsleiter mit einer Liste der Namen aller Praktikanten. Zum Auftakt erhob er sich und rief nach dem Zufallsprinzip Teilnehmer auf. Jeder im Raum betete: «Bitte nicht mich!»
Ich war nervös, aber wild entschlossen. Meine Strategie war, mich sofort freiwillig zu melden, wenn ich eine Antwort wusste. Damit sank die Wahrscheinlichkeit, dass mich der Sitzungsleiter später drannahm bei Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Einige Teilnehmer blieben ganz gelassen, wenn sie an die Reihe kamen, andere dagegen gerieten regelrecht in Panik – Männer wie Frauen:
VICE PRESIDENT (zeigt mit dem Finger) : Also gut, Sie da, dritte Reihe, zweiter Stuhl.
PRAKTIKANTIN (steht auf, schluckt) : Brynn Thomas, Brown University.
VP: Was hält unser Research-Analyst von Microsoft?
PRAKTIKANTIN: Äh, finden wir gut, glaube ich.
VP: Was empfehlen wir? Kaufen? Verkaufen?
PRAKTIKANTIN (zögert)
VP: Na los, ich brauche schnelle Antworten! Da ist doch nichts dabei – Microsoft ist eines der größten Unternehmen der Welt!
PRAKTIKANTIN (verunsichert) : Kaufen?
VP: Mit welchem Kursziel? Welche Katalysatoren stehen an? Wie sieht die Kursentwicklung aus?
Die Praktikantin öffnet den Mund, doch es kommt kein Ton heraus. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, und sie verlässt fluchtartig den Raum …
Es ging darum, die Kandidaten auszuquetschen. Das Open Meeting war ein Verhörraum, in dem die Sitzungsleiter die Bewerber löcherten, um ihre Kenntnisse auf den verschiedensten Gebieten zu prüfen. Vor allem ging es um die Märkte. Fragen lauteten etwa: «Wo steht der S&P 500?», oder: «Warum hat Rohöl heute drei Prozent verloren?», oder: «Warum hat Alan Greenspan die Zinsen gesenkt?»
Die zweite Fragenkategorie betraf die Geschichte von Goldman Sachs. Ich freute mich immer, wenn Fragen gestellt wurden wie: Wann wurde die Firma gegründet? Von wem? Auf welcher Grundlage? Wer waren die Senior Partner seit den sechziger Jahren? Wer ist der amtierende CFO? Da kannte ich mich bestens aus. Ich wusste, dass Goldman Sachs in der Vergangenheit von legendären Gestalten wie Sidney Weinberg geleitet worden war – dem Mann, der den Börsengang von Ford Motors betreut hatte – oder John Whitehead, der nach seinem Rücktritt als Senior Partner im Außenministerium tätig war und später Chef der New Yorker Niederlassung der US-Notenbank Federal Reserve wurde. Und ich konnte jede Menge Beispiele für die bewundernswerte Unternehmenskultur der Firma anführen. So hatte es Goldman Sachs viele Jahre lang abgelehnt, Beratungsleistungen für feindliche Übernahmen zu erbringen, weil die Firma solche Geschäfte für abträglich hielt, da sie das Vertrauen der Kunden untergruben.
Die dritte Kategorie betraf Fragen zum Management und allgemeine Fragen zum Tagesgeschäft. Die Leiter der Sitzung feuerten Fragen ab wie: Wie quantifiziert ein Händler Risiken? Was macht ein Derivateverkäufer? Welche beiden Managing Directors leiten die Abteilung Credit Derivatives Trading? Welche Unterschiede im Market-Making bestehen zwischen NASDAQ und NYSE? Welcher Partner ist zuständig für die Abteilung Emerging Markets?
Wie wir nach und nach herausfanden, sollten wir aus diesen Sitzungen lernen, wie wir uns zu verhalten hatten, wenn uns ein anspruchsvoller Kunde am Telefon in die Zange nahm – und Goldman Sachs hatte jede Menge anspruchsvolle Kunden. Der größte Fehler bei einem Open Meeting war, sich etwas aus den Fingern zu saugen, wenn man die Antwort nicht wusste. Wer das versuchte, gehörte am Ende oft zu denen, die unter Tränen die Flucht ergriffen.
Der gefürchtetste Sitzungsleiter war ein altgedienter Vice President namens Valentino Carlotti. Er war ein Mann der zwei Gesichter: in den Open Meetings knallhart (manche Sitzungsleiter rissen auch mal einen Witz – Val nie), doch im persönlichen Umgang ein netter Kerl. In jenem Sommer ging er manchmal mit den Praktikanten aus –
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