Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
solchen Lärm, dass ich irgendwann beschloss, sie auszuschalten und einfach das Fenster aufzumachen.
In der Familie gab es sonderbare Regeln. Man teilte mir mit: «Wenn Sie sich ein Glas Orangensaft aus dem Kühlschrank holen, müssen Sie das aufschreiben.» Aber ich beruhigte die guten Leute: «Keine Angst, ich brauche keinen Orangensaft. Vermutlich bekommen Sie mich ohnehin kaum zu Gesicht. Ich werde viel arbeiten.»
Der Aktienhandelssaal von Goldman Sachs im neunundvierzigsten Stock des Gebäudes One New York Plaza war ein riesiger offener Raum von der Größe eines Fußballplatzes mit Panoramablick über Lower Manhattan. Durch Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten, konnte man den New Yorker Hafen und die Freiheitsstatue sehen, die Zwillingstürme des World Trade Center und den Hudson. Doch zur ruhigen Betrachtung lud der phantastische Ausblick nicht ein, denn man befand sich im Innern eines Bienenstocks: Fünfhundert bis sechshundert Händler waren hier untergebracht, die riefen, gestikulierten oder angespannt ins Telefon sprachen. Sie rannten, liefen, grinsten, runzelten die Stirn, sprangen auf und gaben sich seltsame Handzeichen. Hier wurde mit allem gehandelt, von der aktuellen Neuemission einer brandheißen Internetfirma bis zu traditionellen Standardwerten wie General Motors oder Citigroup. Diese Händler arbeiteten nicht für Einzelkunden, sondern für die größten Vermögensverwalter, Pensionskassen, Regierungsstellen und Hedgefonds der Welt. Wer von den Tradern nicht gerade herumrannte, starrte auf seine Bildschirme. Im Sommer 2000 hatte jeder im Handelssaal drei oder vier Monitore und außerdem noch ein Bloomberg-Terminal für Marktdaten. (Inzwischen gibt es Bloomberg Market Data als Software, die in einem Fenster auf einem der Händlerbildschirme erscheint.)
Ich betrat dieses Parkett erstmals nach nur drei Stunden Schlaf. Meine Augen fühlten sich an wie mit Sandpapier geschmirgelt, als ich aus der U-Bahn stieg und zur Adresse Ecke Water und Broad Street an der Südspitze von Manhattan ging, keine Viertelstunde Fußweg vom World Trade Center entfernt. Ich klammerte mich an meinen extragroßen Kaffee und schaute an dem ehrfurchtgebietenden Wolkenkratzer empor – dem Hauptsitz von Equities Trading von Goldman Sachs. O Mann, dachte ich, ich hab’s an die Wall Street geschafft. Besser geht’s wirklich nicht.
Die Praktikanten, die wie ich im Quartalssystem studierten, waren ebenfalls mit einer Woche Verspätung eingetroffen. Man brachte uns in ein Zimmer, damit wir uns der Personalabteilung vorstellen konnten. Ich weiß noch, wie ich den Raum betrat und ein paar vertraute Gesichter aus Stanford erkannte. Die Luft knisterte förmlich. Für uns alle war es der erste Kontakt mit der Wall Street. Wir unterhielten uns aufgeregt und konnten kaum stillsitzen. Die Personaler gaben uns stapelweise Formulare zum Ausfüllen. Außerdem erhielten wir Goldman-Sachs-E-Mail-Adressen und Firmenausweise. Auf den Ausweisen – laminierte Karten mit grellorangem Rand, die an einem ebenfalls orangen Schlüsselband um den Hals getragen wurden – standen in großen schwarzen Lettern unsere Namen und Universitäten. Uns wurde eingeschärft, dass wir die Namensschilder ständig um den Hals tragen müssten, sobald wir das Firmengelände betraten. Andernfalls gäbe es Ärger. Goldman Sachs wollte sichergehen, dass die Praktikanten im Handelssaal zweifelsfrei als solche erkannt würden.
Goldman nahm in jeder seiner Sparten Sommerpraktikanten auf: im Bereich Aktien, im Bereich festverzinsliche Papiere, Währungen und Rohstoffe, im Bereich Investmentmanagement, im Bereich Research und so weiter. Nachdem ich die Auswahlgespräche gemeistert hatte, waren mir zwei Stellen angeboten worden: eine im Aktienhandel in New York und eine im Investmentmanagement in Chicago oder New York. Über Vermögensverwaltung hatte ich im vorigen Sommer bei Paine Webber schon einiges gelernt. Es ist ein bedächtigeres Geschäft in kleinerem Rahmen. Man hat mit Einzelkunden zu tun. Doch das Aufregende an der Wall Street waren für mich die großen Fische – die institutionellen Investoren. Deshalb entschied ich mich für Aktien. Ich wollte praktische Erfahrung auf dem Börsenparkett sammeln, die Hektik erleben, das Geschrei durch den Saal. Und dieser Wunsch sollte sich erfüllen.
Für einen Praktikanten war es aufregend, beängstigend und verwirrend zugleich, den Handelssaal zu betreten. Nicht jeder ist dafür gemacht, doch ich fühlte
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