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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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Eines Tages betrachtete sie sich wieder im Spiegel und wurde gewahr, daß sie alt und häßlich war.
    Als sie feststellte, daß sie alles verloren hatte, suchte sie einen Schuldigen. Schuldig waren alle: schuldig war ihr erster Mann, männlich und ungeliebt, der nicht gehorcht hatte, als sie ihm ins Ohr flüsterte, er solle aufpassen. Schuldig war ihr zweiter Mann, unmännlich und geliebt, der sie von Prag in diese kleine Stadt geschleppt hatte und hier allen Frauen nachstellte, so daß ihre Eifersucht nie aufhörte. Gegen beide Männer war sie machtlos. Der einzige Mensch, der ihr gehörte und nicht weglaufen konnte, die Geisel, die für alle zahlen mußte, war Teresa.
    Vielleicht war tatsächlich sie schuld am Schicksal ihrer Mutter. Sie: diese absurde Folge der Begegnung zwischen dem Sperma des Männlichsten und dem Ei der Schönsten. In jener fatalen Sekunde, die Teresa heißt, hatte für die Mutter der Marathonlauf ihres verpfuschten Lebens begonnen.
    Die Mutter erklärte Teresa unablässig, daß Mutter sein bedeute, alles zu opfern. Ihre Worte klangen überzeugend, zumal sie die Erfahrung einer Frau zum Ausdruck brachten, die ihres Kindes wegen alles verloren hatte. Teresa hörte zu und glaubte, daß der höchste Wert im Leben die Mutterschaft und daß Mutterschaft ein großes Opfer sei. Wenn die Mutterschaft aber ein >Opfer< ist, dann ist das Schicksal einer Tochter eine >Schuld<, die niemals wiedergutzumachen ist.
    Teresa kannte natürlich nicht die Geschichte jener Nacht, als die Mutter dem Vater ins Ohr flüsterte, er solle aufpassen. Sie fühlte eine Schuld, doch die war unbestimmt wie die Erbsünde. Sie tat alles, um sie zu sühnen. Nachdem die Mutter sie mit fünfzehn von der Schule genommen hatte, arbeitete sie als Kellnerin und gab der Mutter alles, was sie verdiente. Sie war bereit, alles Erdenkliche zu tun, um sich ihre Liebe zu verdienen. Sie besorgte den Haushalt, kümmerte sich um die Geschwister, verbrachte den ganzen Sonntag mit Putzen und Waschen. Das war schade, denn auf dem Gymnasium war sie Klassenbeste gewesen. Sie wollte höher hinaus, doch gab es in dieser Kleinstadt für sie kein Höher. Teresa wusch die Wäsche, und neben der Wanne hatte sie ein Buch liegen. Sie blätterte die Seiten um, und Wassertropfen fielen auf das Papier.
    Zu Hause existierten keine Schamgefühle. Die Mutter lief in Unterwäsche in der Wohnung herum, manchmal ohne Büstenhalter, manchmal, an Sommertagen, sogar ganz nackt.
    Der Stiefvater lief nicht nackt herum, aber er kam immer ins Badezimmer, wenn Teresa in der Wanne lag. Als sie sich deswegen einmal einschloß, machte die Mutter einen Skandal: »Für wen hältst du dich eigentlich? Was glaubst du denn, wer du bist? Er wird dir deine Schönheit schon nicht weggucken!«
    (Diese Situation zeigt ganz klar, daß der Haß der Mutter auf die Tochter stärker war als die Eifersucht, die ihr Mann auslöste. Die Schuld der Tochter war unendlich groß und schloß selbst die Untreue des Mannes mit ein.
    Will die Tochter sich emanzipieren und auf ihren Rechten bestehen - zum Beispiel auf dem Recht, sich im Badezimmer einzuschließen -, so kann die Mutter das auf keinen Fall zulassen, dann schon eher, daß ihr Mann ein Auge auf Teresa wirft.) An einem Winterabend spazierte die Mutter bei eingeschaltetem Licht nackt in der Wohnung herum. Teresa zog schnell die Vorhänge zu, damit die Nachbarn von gegenüber die Mutter nicht sehen konnten. Sie hörte das Gelächter hinter ihrem Rücken. Am nächsten Tag kamen Freundinnen der Mutter zu Besuch: eine Nachbarin, eine Kollegin aus dem Geschäft, eine Lehrerin des Viertels und noch zwei oder drei Frauen, die sich regelmäßig trafen. Teresa kam mit dem sechzehnjährigen Sohn einer der Frauen ins Zimmer. Gleich nutzte die Mutter die Gelegenheit zu erzählen, wie ihre Tochter ihr Schamgefühl hatte beschützen wollen. Sie lachte, und all die Frauen lachten mit. Dann sagte die Mutter: »Teresa will sich einfach nicht damit abfinden, daß der menschliche Körper pißt und furzt.« Teresa wurde rot, aber die Mutter fuhr dennoch fort: »Was ist denn schon dabei?« und gab gleich die Antwort, indem sie laute Winde fahren ließ. Alle Frauen lachten.
    7.
    Die Mutter schneuzt sich laut, redet ungeniert über ihr Sexualleben, führt ihr künstliches Gebiß vor. Sie kann es erstaunlich geschickt mit der Zunge vom Gaumen lösen, indem sie mit einem breiten Lachen die oberen Zähne auf die unteren fallen läßt: ihr Gesicht hat plötzlich einen

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