Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
absoluten Zufalls. Er saß an einem Tisch vor einem offenen Buch. Er hob die Augen zu Teresa auf und lächelte: »Einen Cognac!«
In diesem Moment erklang Musik aus dem Radio. Teresa ging zur Theke, um den Cognac zu holen, und drehte am Knopf des Apparates, um ihn noch lauter zu stellen. Sie hatte Beethoven wiedererkannt. Sie kannte ihn, seit ein Prager Quartett in ihrer Stadt ein Gastspiel gegeben hatte. Teresa (die, wie wir wissen, von >etwas Höherem< träumte) war in das Konzert gegangen. Der Saal war leer. Außer ihr war nur der Apotheker mit seiner Frau gekommen. Auf dem Podium saß also ein Quartett von Musikanten und im Saal ein Trio von Zuhörern, aber die Musiker waren so freundlich, das Konzert nicht abzusagen und einen Abend lang nur für sie Beethovens letzte drei Quartette zu spielen.
Anschließend hatte der Apotheker die Musiker zum Essen eingeladen und die unbekannte Zuhörerin gebeten, sich ihnen anzuschließen. Seitdem war Beethoven für sie das Bild der Welt >auf der anderen Seite<, das Bild jener Welt, von der sie träumte. Während sie den Cognac von der Theke zu Tomas' Tisch trug, bemühte sie sich, in diesem Zufall zu lesen: Wie war es möglich, daß sie gerade jetzt, wo sie dabei war, diesem Unbekannten, der ihr gefiel, einen Cognac zu servieren, Beethoven hörte?
Nicht die Notwendigkeit, sondern der Zufall ist voller Zauber. Soll die Liebe unvergeßlich sein, so müssen sich vom ersten Augenblick an Zufälle auf ihr niederlassen wie die Vögel auf den Schultern des Franz von Assisi.
Er rief sie, um zu bezahlen. Er klappte das Buch (das Erkennungszeichen der geheimen Bruderschaft) zu, und sie hätte ihn gerne gefragt, was er las.
»Können Sie es auf meine Hotelrechnung schreiben?«
»Selbstverständlich, wie ist Ihre Zimmernummer?«
Er zeigte ihr den Schlüssel, der an einem Holztäfelchen mit einer rotgemalten Sechs hing.
»Sonderbar«, sagte sie, »die Nummer sechs.«
»Was ist daran so sonderbar?« fragte er.
Sie erinnerte sich, daß die Wohnung in Prag, in der die Familie vor der Scheidung der Eltern gewohnt hatte, im Haus Nummer sechs war. Aber sie sagte etwas ganz anderes (und wir können ihre List nur bewundern): »Sie haben das Zimmer Nummer sechs, und ich beende meinen Dienst um sechs.«
»Und mein Zug fährt um sieben«, sagte der Unbekannte.
Sie wußte nicht, was sie noch sagen sollte, überreichte ihm die Rechnung zum Unterschreiben und brachte sie zur Rezeption. Als sie ihren Dienst beendet hatte, saß der Fremde nicht mehr an seinem Tisch. Hatte er ihre diskrete Botschaft verstanden? Aufgeregt verließ sie das Lokal.
Gegenüber lag ein kleiner Park, armselig und spärlich bepflanzt, ein Park einer schmutzigen Kleinstadt, der aber für sie immer eine Insel der Schönheit war: es gab dort Rasen, vier Pappeln, Bänke, eine Trauerweide und Forsythiensträucher.
Er saß auf einer gelben Bank, von der aus man den Eingang des Restaurants sehen konnte. Genau auf dieser
Bank hatte sie gestern gesessen, mit einem Buch auf den Knien! In diesem Moment begriff sie (die Vögel des Zufalls hatten sich auf ihren Schultern niedergelassen), daß dieser unbekannte Mann für sie bestimmt war. Er sprach sie an und forderte sie auf, sich neben ihn zu setzen. (Die Mannschaft der Seele stürmte auf das Deck des Körpers.) Etwas später dann begleitete sie ihn zum Bahnhof, wo er ihr beim Abschied seine Visitenkarte mit der Telefonnummer gab: »Falls Sie zufällig einmal nach Prag kommen sollten ...«
11.
Viel mehr als diese Visitenkarte, die er ihr im letzten Moment gegeben hatte, war es der Wink des Zufalls (das Buch, Beethoven, die Nummer sechs, die gelbe Bank im Park), der ihr den Mut gab, von zu Hause wegzugehen und ihr Leben zu verändern. Vielleicht sind es diese Zufälle gewesen (übrigens recht bescheiden und farblos, dieser unbedeutenden Stadt wahrhaft würdig), die ihre Liebe in Bewegung setzten und zu einer Energiequelle wurden, aus der sie bis ans Ende ihres Lebens schöpfen würde.
Unser Alltag wird von Zufällen bombardiert, genauer gesagt, von zufälligen Begegnungen zwischen Menschen und Ereignissen, die man Koinzidenzen nennt. Man spricht von Koinzidenz, wenn zwei unerwartete Ereignisse gleichzeitig stattfinden, wenn sie aufeinandertreffen: Tomas taucht in dem Moment im Lokal auf, als im Radio Beethoven gesendet wird. Solche Koinzidenzen sind so häufig, daß man sie oft nicht wahrnimmt. Hätte der Metzger von nebenan am Wirtshaustisch gesessen und nicht Tomas, so
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