Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
darauf, so daß Tomas am fünften Tag nach Teresas Abreise dem Leiter des Spitals (demselben, der ihn nach der russischen Invasion täglich in Prag angerufen hatte) mitteilte, daß er unverzüglich zurückkehren müßte. Er schämte sich. Er wußte, daß sein Verhalten dem Direktor der Klinik unverantwortlich und unverzeihlich vorkommen mußte. Er hatte das Bedürfnis, sich ihm anzuvertrauen und ihm von Teresa und dem Brief zu erzählen, den sie ihm auf den Tisch gelegt hatte.
Doch er tat es nicht. Einem Schweizer Arzt mußte Teresas Handeln hysterisch und unsympathisch erscheinen. Und Tomas wollte nicht zulassen, daß jemand schlecht über sie dachte.
Der Direktor war tatsächlich betroffen.
Tomas zuckte die Schultern und sagte: »Es muß sein. Es muß sein.«
Das war eine Anspielung. Der letzte Satz von Beethovens letztem Quartett ist nach den folgenden zwei Motiven komponiert: Um den Sinn dieser Worte ganz klar zu machen, überschrieb Beethoven den letzten Satz mit »Der schwer gefaßte Entschluß«.
Mit dieser Anspielung auf Beethoven war Tomas im Grunde schon zu Teresa zurückgekehrt, denn schließlich war sie es gewesen, die durchgesetzt hatte, die Schallplatten mit Beethovens Quartetten und Sonaten zu kaufen. Die Anspielung war passender, als er ahnte, denn der Direktor war ein großer Musikliebhaber. Er lächelte sanft und sagte leise, in Beethovens Melodie: »Muß es sein?«
Tomas sagte noch einmal: »Ja, es muß sein.«
16.
Im Unterschied zu Parmenides war für Beethoven die Schwere offenbar etwas Positives. »Der schwer gefaßte Entschluß« ist verbunden mit der Stimme des Schicksals (»Es muß sein!«); Schwere, Notwendigkeit und Wert sind drei eng zusammenhängende Begriffe: nur das Notwendige ist schwer, nur was wiegt, hat Wert.
Diese Überzeugung wurde aus der Musik Beethovens geboren, und obwohl es möglich (wenn nicht sogar wahrscheinlich) ist, daß eher Beethovens Interpreten als der Komponist selbst dafür verantwortlich sind, teilen wir heute alle mehr oder weniger diese Überzeugung: Für uns besteht die Größe des Menschen darin, daß er sein Schicksal trägt, wie Adas das Himmelszelt auf seinen Schultern getragen hat.
Beethovens Held ist ein Gewichtheber metaphysischer Gewichte.
Tomas fuhr auf die Schweizer Grenze zu, und ich stelle mir vor, daß der mürrische Beethoven in seiner Haarpracht persönlich eine Feuerwehrkapelle dirigierte und ihm zum Abschied von der Emigration den Marsch »Es muß sein!« spielte.
Nachdem Tomas die tschechische Grenze passiert hatte, stieß er gleich auf eine Kolonne russischer Panzer. Er mußte vor einer Kreuzung anhalten und eine halbe Stunde lang warten, bis sie vorbeigerollt waren. Ein unheimlicher Panzerfahrer in schwarzer Uniform stand auf der Kreuzung und regelte den Verkehr, als gehörten alle tschechischen Straßen ihm allein.
»Es muß sein«, wiederholte Tomas für sich, aber bald schon begann er zu zweifeln: mußte es wirklich sein?
Gewiß, es war unerträglich, in Zürich zu sein und sich vorzustellen, wie Teresa allein in Prag lebte.
Wie lange aber hätte ihn das Mitgefühl gequält? Ein Leben lang? Ein ganzes Jahr? Einen Monat? Oder nur eine Woche?
Wie konnte er das wissen? Wie konnte er das nachprüfen?
Jeder Schüler kann in der Physikstunde durch Versuche nachprüfen, ob eine wissenschaftliche Hypothese stimmt.
Der Mensch aber lebt nur ein Leben, er hat keine Möglichkeit, die Richtigkeit der Hypothese in einem Versuch zu beweisen. Deshalb wird er nie erfahren, ob es richtig oder falsch war, seinem Gefühl gehorcht zu haben.
Soweit war er mit seinen Gedanken gekommen, als er die Wohnungstür öffnete. Karenin sprang an ihm hoch, was den Moment des Wiedersehens erleichterte. Die Lust,
Teresa in die Arme zu fallen (eine Lust, die er noch verspürt hatte, als er in Zürich ins Auto stieg), war vollkommen verschwunden. Er fühlte sich, als stünde er ihr mitten in einem Schneefeld gegenüber, als zitterten sie beide vor Kälte.
17.
Seit der Okkupation flogen Nacht für Nacht russische Militärflugzeuge über Prag. Tomas war diesen Lärm nicht mehr gewohnt und konnte nicht einschlafen.
Er wälzte sich neben der schlafenden Teresa hin und her und dachte daran, was sie ihm vor langer Zeit in einem belanglosen Gespräch gesagt hatte. Sie sprachen über seinen Freund Z., und sie verkündete: »Wenn ich dich nicht getroffen hätte, hätte ich mich bestimmt in ihn verliebt.«
Schon damals hatten diese Worte Tomas in eine
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