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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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jedoch einen Abstieg bedeutete. Er durfte nicht mehr als Chirurg praktizieren, sondern mußte als einfacher Arzt arbeiten. Das Wartezimmer war ständig überfüllt, er konnte dem einzelnen Patienten kaum fünf Minuten widmen; er verschrieb ihnen Aspirin, füllte Arbeitsunfähigkeitszeugnisse aus und schickte die Kranken zu Spezialuntersuchungen. Er betrachtete sich nicht mehr als Arzt, sondern als Schreibkraft.
    Eines Tages erhielt er nach der Sprechstunde Besuch von einem etwa fünfzigjährigen Mann, dessen füllige Erscheinung ihm eine gewisse Würde verlieh. Er stellte sich als Referent des Innenministeriums vor und lud Tomas in die Wirtschaft gegenüber ein.
    Er bestellte eine Flasche Wein. Tomas protestierte: »Ich bin mit dem Auto da. Wenn mich die Polizei schnappt, verliere ich meinen Führerschein.« Der Mann vom Innenministerium lachte: »Wenn Ihnen etwas passiert, berufen Sie sich auf mich«, und er überreichte Tomas eine Visitenkarte, auf der sein (sicher falscher) Name und die Telefonnummer des Innenministeriums standen.
    Dann redete er lange darüber, wie sehr er Tomas schätzte.
    Allen im Ministerium täte es leid, daß ein Chirurg seines Formates in einer Vorstadt-Poliklinik Aspirin verschreiben müßte. Er gab ihm indirekt zu verstehen, daß die Polizei mit dem allzu drastischen Vorgehen bei der Eliminierung von Fachleuten von ihren Posten nicht einverstanden war, was sie allerdings nicht laut sagen durfte.
    Da Tomas schon lange von niemandem mehr gelobt worden war, hörte er dem dicklichen Mann aufmerksam zu, und er war verdutzt, wie genau und detailliert dieser über seine Berufserfolge informiert war. Wie machtlos man doch gegen Schmeicheleien ist! Tomas konnte nicht umhin, das ernst zu nehmen, was der Mann vom Ministerium sagte.
    Und zwar nicht etwa nur aus Eitelkeit, sondern viel mehr aus Unerfahrenheit. Sitzt man jemandem gegenüber, der liebenswürdig, ehrerbietig und höflich ist, so fällt es einem schwer, sich immer wieder klarzumachen, daß nichts von alldem, was er sagt, wahr ist, und nichts ehrlich gemeint. Es nicht zu glauben (ständig, systematisch, ohne jeden Zweifel), erfordert einen ungeheuren Kraftaufwand und außerdem Übung, das heißt, häufige Polizeiverhöre. Diese Übung fehlte Tomas.
    Der Mann vom Ministerium fuhr fort: »Wir wissen, Herr Doktor, Sie hatten in Zürich eine ausgezeichnete Position.
    Und wir schätzen es sehr, daß sie zurückgekehrt sind. Das war sehr schön von Ihnen. Sie haben gewußt, wo Ihr Platz ist.« Und dann fügte er hinzu, als wollte er Tomas etwas vorwerfen: »Aber Ihr Platz ist am Operationstisch!«
    »Da bin ich mit Ihnen ganz einer Meinung«, sagte Tomas.
    Es folgte eine kurze Pause, und dann sagte der Mann vom Ministerium mit bekümmerter Stimme: »Aber sagen Sie, Herr Doktor, meinen Sie wirklich, man sollte den
    Kommunisten die Augen ausstechen? Kommt es Ihnen nicht sonderbar vor, daß jemand wie Sie, der so vielen Menschen die Gesundheit wiedergegeben hat, so etwas sagt?«
    »Das ist doch völliger Unsinn«, setzte sich Tomas zur Wehr, »lesen Sie doch genau, was ich geschrieben habe!«
    »Ich habe es gelesen«, sagte der Mann vom Ministerium in einem Ton, der betrübt klingen sollte.
    »Und steht dort vielleicht, man sollte den Kommunisten die Augen ausstechen?«
    »Alle haben es so verstanden«, sagte der Mann vom Ministerium, und seine Stimme wurde immer trauriger.
    »Hätten Sie den ganzen Text gelesen, so wie ich ihn geschrieben habe, wären Sie nicht auf diese Idee gekommen. Er ist gekürzt erschienen.«
    »Was?« sagte der Mann vom Ministerium und spitzte die Ohren, »man hat Ihren Text nicht so gedruckt, wie Sie ihn geschrieben haben?«
    »Er ist gekürzt worden.«
    »Viel?«
    »Etwa um ein Drittel.«
    Der Mann vom Ministerium schien aufrichtig empört zu sein: »Das war aber kein ehrliches Spiel von der anderen Seite.«
    Tomas zuckte die Schultern.
    »Sie hätten sich dagegen verwahren sollen! Eine sofortige Richtigstellung verlangen!«
    »Gleich danach sind doch die Russen einmarschiert! Da hatten wir andere Sorgen«, sagte Tomas.
    »Und warum sollte man die Leute in dem Glauben lassen, daß Sie als Arzt verlangen, man sollte gewissen
    Menschen das Augenlicht nehmen?«
    »Aber ich bitte Sie, dieser Artikel wurde irgendwo hinten zwischen den Leserbriefen abgedruckt. Niemand hat ihn beachtet. Außer der russischen Botschaft, weil er der gerade gelegen kam.«
    »Sagen Sie das nicht, Herr Doktor! Ich habe persönlich mit vielen Leuten

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