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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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hörte weiter zu.
    »Die Deklaration wartet dann hübsch in einer Schreibtisch-Schublade, und der Verfasser weiß, daß sie jederzeit veröffentlicht werden kann. Unter dieser Voraussetzung wird er nie mehr etwas sagen, nichts mehr kritisieren, gegen nichts mehr protestieren können, weil in dem Falle die Erklärung publik gemacht würde und er vor allen entwürdigt wäre. So betrachtet ist es eine recht zuvorkommende Methode. Man kann sich Schlimmeres vorstellen.«
    »Eine zuvorkommende Methode, gewiß«, sagte Tomas, »mich würde nur interessieren, wer dir gesagt hat, daß ich auf so etwas eingegangen bin.«
    Der Kollege zuckte mit den Schultern, ohne daß sein Lächeln aus dem Gesicht verschwand.
    Tomas begriff etwas Merkwürdiges: alle lächelten ihn an, alle wünschten sich, daß er den Widerruf schriebe, allen hätte er damit eine Freude bereitet! Die einen freuten sich, weil die Inflation der Feigheit ihr eigenes Handeln banalisierte und ihnen die verlorene Ehre zurückgab. Die anderen hatten sich daran gewöhnt, ihre Ehre als besonderes Privileg zu betrachten, das sie nicht aufgeben wollten. Deshalb hegten sie eine heimliche Liebe für die Feiglinge; ohne sie würde ihre eigene Standhaftigkeit zu einer alltäglichen, überflüssigen, von niemandem bewunderten Mühe.
    Tomas konnte dieses Lächeln nicht ertragen und er glaubte, es überall zu sehen, selbst auf den Gesichtern von Unbekannten auf der Straße. Er konnte nicht mehr schlafen.
    Wie ist das möglich? Mißt er diesen Leuten ein solches Gewicht bei? Nein. Er denkt nichts Gutes über sie und ist wütend auf sich selbst, weil er sich von ihren Blicken so sehr beirren läßt. Darin liegt keine Logik. Wie kommt es aber, daß jemand, der so wenig von den Menschen hält, so von ihrer Meinung abhängig ist?
    Sein tiefes Mißtrauen gegen die Menschen (seine Zweifel, ob sie ein Recht haben, über ihn zu entscheiden und zu urteilen) hat wohl schon seine Berufswahl beeinflußt, durch die er ausschloß, den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt zu sein. Wer sich zum Beispiel für eine politische Laufbahn entscheidet, macht das Publikum freiwillig zu seinem Richter, in dem naiven und unverhohlenen Glauben, sich dessen Gunst erwerben zu können. Eventuelle Meinungsverschiedenheiten mit der Masse spornen ihn zu noch größeren Leistungen an, so wie Tomas in einer komplizierten Diagnose einen Anreiz sah.
    Im Gegensatz zu einem Politiker oder Schauspieler wird ein Arzt nur von seinen Patienten und den allernächsten Kollegen beurteilt, also zwischen vier Wänden und von Mensch zu Mensch. Auf die Blicke derer, die ihn beurteilen, kann er im selben Augenblick mit seinem eigenen Blick antworten, etwas erklären oder sich verteidigen. Nun aber befand sich Tomas (zum ersten Mal in seinem Leben) in einer Lage, in der mehr Blicke auf ihn gerichtet waren, als er wahrnehmen konnte. Er vermochte weder mit seinem eigenen Blick noch mit seinen eigenen  Worten darauf zu antworten. Er war ihnen ausgeliefert. Innerhalb und außerhalb des Krankenhauses wurde über ihn geredet (zu jener Zeit verbreiteten sich im unruhigen Prag die Nachrichten darüber, wer resignierte, wer denunzierte, wer kollaborierte, mit der ungewöhnlichen Geschwindigkeit afrikanischer Trommeln).
    Tomas wußte es und konnte dennoch nichts dagegen unternehmen. Er war selbst überrascht, wie unerträglich das für ihn war, in welche Panik es ihn versetzte. Das Interesse all dieser Leute für seine Person war ihm zuwider wie ein Gedränge oder die Berührungen von Menschen, die uns in unseren Alpträumen die Kleider vom Leib reißen.
    Er ging zum Chefarzt und eröffnete ihm, daß er nichts unterschreiben werde.
    Der Chefarzt drückte ihm die Hand, stärker als je zuvor, und sagte, er habe diese Entscheidung vorausgesehen.
    Tomas sagte: »Herr Doktor, vielleicht könnten Sie mich auch ohne diese Erklärung hierbehalten«, womit er andeuten wollte, daß es genügte, wenn alle seine Kollegen mit Kündigung drohten für den Fall, daß er entlassen würde.
    Es fiel jedoch niemandem ein, mit Kündigung zu drohen, und so mußte Tomas wenig später seine Stelle im Krankenhaus aufgeben (der Chefarzt drückte ihm die Hand noch stärker, so daß blaue Flecken zurückblieben).
    Zunächst verschlug es ihn in eine Provinzklinik, etwa achtzig Kilometer von Prag entfernt. Täglich fuhr er mit dem Zug dorthin und kehrte todmüde zurück. Nach einem Jahr gelang es ihm, in einer nahen Poliklinik eine angenehmere Stelle zu finden, die

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