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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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gesprochen, die über Ihren Artikel diskutiert und sich gewundert haben, wie Sie so etwas schreiben konnten. Nun aber ist mir manches klarer, nachdem Sie mir gesagt haben, daß der Artikel nicht so erschienen ist, wie Sie ihn geschrieben haben. Sind Sie aufgefordert worden, den Beitrag zu schreiben?«
    »Nein«, sagte Tomas, »ich habe ihn aus eigenem Antrieb eingesandt.«
    »Kennen Sie diese Leute?«
    »Welche Leute?«
    »Die Ihren Artikel gedruckt haben.«
    »Nein.«
    »Sie haben nie mit ihnen gesprochen?«
    »Nur einmal. Ich mußte in der Redaktion vorbeikommen.«
    »Warum?«
    »Wiegen dieses Artikels.«
    »Und mit wem haben Sie gesprochen?«
    »Mit einem Redakteur.«
    »Wie hat er geheißen?«
    Erst jetzt wurde Tomas klar, daß er verhört wurde. Er begriff plötzlich, daß jedes Wort jemanden in Gefahr bringen konnte. Er kannte den Namen des Redakteurs, leugnete es aber: »Ich weiß nicht.«
    »Aber, aber, Herr Doktor«, sagte der Mann, ganz entrüstet über Tomas' Unaufrichtigkeit, »er hat sich doch sicher vorgestellt!«
    Es hat etwas Tragikomisches, daß gerade unsere gute Erziehung zum Verbündeten der Polizei geworden ist. Wir verstehen nicht zu lügen. Der Imperativ »Sag die Wahrheit!«, der uns von Mutter und Vater eingehämmert worden ist, hat zur Folge, daß wir uns unwillkürlich für eine Lüge schämen, sogar vor dem Polizisten, der uns verhört. Es ist für uns viel einfacher, mit ihm zu streiten und ihn zu beleidigen (was völlig sinnlos ist), als ihm ins Gesicht zu lügen (was das einzig Richtige wäre).
    Als der Mann vom Ministerium Tomas Unaufrichtigkeit vorwarf, kam dieser sich fast schuldig vor; er mußte eine moralische Barriere durchbrechen, um weiter auf seiner Lüge zu beharren: »Vermutlich hat er sich vorgestellt«, sagte er, »da der Name mir aber nichts sagte, habe ich ihn wieder vergessen.«
    »Wie sah er aus?«
    Der Redakteur, mit dem er damals verhandelt hatte, war klein und trug einen blonden Bürstenhaarschnitt. Tomas versuchte, gerade gegenteilige Angaben zu machen: »Er war groß. Er hatte lange schwarze Haare.«
    »Aha«, sagte der Mann vom Ministerium, »und ein großes Kinn.«
    »Genau«, sagte Tomas.
    »Etwas vornübergebeugt.«
    »Ja«, pflichtete Tomas bei und wurde sich in dem Moment bewußt, daß der Mann vom Ministerium denjenigen bereits identifiziert hatte, um den es ihm ging. Tomas hatte nicht nur einen armen Redakteur denunziert, seine Denunziation war darüber hinaus auch noch falsch.
    »Aber warum hat er Sie eingeladen? Worüber haben Sie
    gesprochen?«
    »Es ging um eine Veränderung im Satzbau.«
    Das klang nach einer lachhaften Ausflucht. Der Mann vom Ministerium war erneut empört, daß Tomas ihm nicht die Wahrheit sagen wollte. »Aber Herr Doktor! Soeben haben Sie mir bestätigt, daß Ihr Text um ein Drittel gekürzt worden ist, und nun sagen Sie, Sie hätten über eine Veränderung im Satzbau diskutiert. Das ist doch nicht logisch!«
    Tomas konnte nun wieder leichter antworten, weil das, was er sagte, der Wahrheit entsprach: »Es ist nicht logisch, aber es ist so«, lachte er, »man hat mich um die Erlaubnis gebeten, in einem Satz die Wortfolge zu ändern, und dann hat man einfach ein Drittel gestrichen.«
    Der Mann vom Ministerium schüttelte wieder den Kopf, als könnte er ein so unmoralisches Verhalten nicht verstehen, und sagte: »Das war Ihnen gegenüber aber gar nicht korrekt von diesen Leuten.«
    Er leerte sein Glas und schloß: »Herr Doktor, Sie sind einer Manipulation zum Opfer gefallen. Es wäre schade, wenn Sie und Ihre Patienten dafür büßen müßten. Wir, Herr Doktor, sind uns völlig im klaren, welche Qualitäten Sie besitzen. Wir werden sehen, was sich machen läßt.«
    Er reichte Tomas die Hand und schüttelte sie herzlich. Sie verließen die Wirtschaft, und jeder ging zu seinem Wagen.
    Nach dieser Begegnung verfiel Tomas in eine schreckliche Stimmung. Er warf sich vor, daß er auf den jovialen Ton des Gesprächs eingegangen war. Wenn er sich schon nicht geweigert hatte, mit dem Polizisten zu sprechen (er war nicht auf eine solche Situation vorbereitet und wußte nicht, was das Gesetz gestattete), so hätte er es zumindest ablehnen müssen, mit ihm wie mit einem Freund im Wirtshaus Wein zu trinken! Wenn ihn nun jemand gesehen hatte, der diesen Typen kannte? Er müßte daraus schließen, daß Tomas in den Diensten der Polizei stand! Und warum hatte er ihm gesagt, daß sein Artikel gekürzt worden war? Warum hatte er ihm diese völlig

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