Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
schauen wir es uns zusammen an. Das, was Sie gelesen haben, könnte Ihnen aber wenigstens als Vorlage dienen.«
Warum hat Tomas den Vorschlag des Polizisten nicht entschieden abgelehnt?
Folgende Überlegung ist ihm durch den Kopf geschossen: Abgesehen davon, daß Erklärungen dieser Art das ganze Volk demoralisieren (worauf offenbar die generelle Strategie der Russen angelegt ist), verfolgte die Polizei in seinem Fall vermutlich ein noch konkreteres Ziel: vielleicht war ein Prozeß gegen die Redakteure der Zeitung, in der Tomas' Artikel erschienen war, in Vorbereitung. Falls dem so war, brauchten sie Tomas' Erklärung als Beweisstück für die Verhandlung und als Teil der Pressekampagne, die gegen die Redakteure eröffnet würde. Lehnte er in diesem Augenblick kategorisch und energisch ab, so setzte er sich der Gefahr aus, daß die Polizei den vorbereiteten Text mit seiner gefälschten Unterschrift veröffentlichte. Keine einzige Zeitung würde jemals sein Dementi publizieren! Kein Mensch auf der Welt würde glauben, daß er den Text nicht geschrieben und unterzeichnet hatte! Er hatte längst begriffen, daß sich die Menschen viel zu sehr über die moralische Erniedrigung eines anderen freuten, als daß sie sich dieses Vergnügen durch irgendwelche Erklärungen verderben ließen.
Indem er der Polizei die Hoffnung machte, den Text selbst zu schreiben, gewann er Zeit. Gleich am nächsten Tag reichte er schriftlich seine Kündigung ein. Er setzte (zu Recht) voraus, daß die Polizei die Macht über ihn verlieren würde und aufhörte, sich für ihn zu interessieren, sobald er freiwillig auf die unterste Sprosse der gesellschaftlichen Leiter herabgestiegen war (wohin übrigens damals Tausende von Intellektuellen aus anderen Fachgebieten abstiegen). Unter solchen Umständen würden sie keine angeblich von ihm unterzeichnete Erklärung mehr abdrucken können, weil das ganz einfach unglaubwürdig wäre. Die schmachvollen öffentlichen Erklärungen waren stets mit dem Aufstieg und nicht mit dem Abstieg des Unterzeichneten verbunden.
In Tomas' Land sind die Ärzte jedoch Staatsangestellte, und der Staat kann, muß sie aber nicht aus seinen Diensten entlassen. Der Beamte, der mit Tomas über die Kündigung verhandelte, kannte dessen guten Ruf. Er schätzte Tomas und versuchte, ihn zu überreden, seine Stelle nicht aufzugeben.
Tomas merkte mit einem Mal, daß er gar nicht sicher war, ob er sich richtig entschieden hatte. Er fühlte sich jedoch seinem Entschluß durch eine Art Treueversprechen verpflichtet und beharrte darauf. So wurde er Fensterputzer.
7.
Als Tomas vor Jahren von Zürich nach Prag zurückkehrte, sagte er sich im stillen: »Es muß sein!« und dachte dabei an seine Liebe zu Teresa. Unmittelbar nach dem Passieren der Grenze begann er zu zweifeln, ob es wirklich hatte sein müssen: er vergegenwärtigte sich, daß einzig eine Kette von lächerlichen Zufällen ihn zu Teresa geführt hatte, Zufälle, die sich vor sieben Jahren zugetragen hatten (und an deren Anfang der Ischias seines Chefs stand), und die ihn jetzt in den Käfig zurückführten, aus dem es kein Entrinnen geben würde.
Bedeutet das, daß es in seinem Leben kein »Es muß sein!«, keine wirkliche Notwendigkeit gibt? Ich glaube, sie war trotz allem vorhanden. Es war nicht die Liebe, sondern der Beruf.
Zur Medizin hatten ihn weder Zufall noch Berechnung geführt, sondern ein tiefes inneres Bedürfnis.
Sofern es überhaupt möglich ist, die Menschen in Kategorien einzuteilen, kann man das sicher nach ihren existentiellen Bedürfnissen tun, die sie zu dieser oder jener Lebenstätigkeit hinlenken. Jeder Franzose ist anders. Aber alle Schauspieler dieser Welt gleichen sich, ob in Paris, in Prag oder an dem kleinsten Provinztheater. Wer von Kind auf damit einverstanden ist, sein Leben lang einem anonymen Publikum preisgegeben zu sein, ist ein Schauspieler. Ohne dieses grundlegende Einverständnis, das nichts mit Talent zu tun hat, das etwas Tieferes ist als Talent, wird man nicht Schauspieler. Ähnlich ist derjenige ein Arzt, der einwilligt, sich sein Leben lang bis zur letzten Konsequenz mit dem menschlichen Körper zu beschäftigen. Dieses grundlegende Einverständnis (und keineswegs Begabung oder Geschicklichkeit) ermöglicht es ihm, im ersten Studienjahr den Seziersaal zu betreten und sechs Jahre später Arzt zu sein.
Die Chirurgie führt den grundlegenden Imperativ des Arztberufes an die äußerste Grenze, wo Menschliches und Göttliches sich
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