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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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war, fühlte er sich dennoch nicht unschuldig. Er konnte den Blick auf das Unglück, das er unwissend verursacht hatte, nicht ertragen, stach sich die Augen aus und verließ Theben als Blinder.
    Tomas hörte das Geschrei der Kommunisten, die ihre innere Reinheit verteidigten, und sagte sich: Eure Unwissenheit ist schuld daran, daß dieses Land, vielleicht für Jahrhunderte, seine Freiheit verloren hat, und ihr schreit, ihr fühlt euch unschuldig? Wie ist es möglich, daß ihr euch das mitansehen könnt? Wie ist es möglich, daß ihr nicht entsetzt seid?
    Könnt ihr überhaupt sehen? Hättet ihr Augen, so müßtet ihr sie euch ausstechen und Theben verlassen!
    Dieser Vergleich gefiel ihm so gut, daß er ihn häufig im  Gespräch mit Freunden erwähnte, wobei ihm allmählich immer präzisere und elegantere Formulierungen einfielen.
    Wie alle Intellektuellen las er in dieser Zeit die Wochenzeitung des Tschechischen Schriftstellerverbandes, die in einer Auflage von etwa 300000 Exemplaren erschien und sich innerhalb des Regimes eine beachtliche Autonomie erkämpft hatte. Sie brachte Dinge zur Sprache, über die andere sich öffentlich nicht zu äußern wagten. In dieser Zeitung der Schriftsteller konnte man sogar lesen, wer in welchem Maße an den Justizmorden während der politischen Prozesse zu Beginn der kommunistischen Machtausübung Schuld hatte.
    In all diesen Streitgesprächen tauchte immer wieder dieselbe Frage auf: Haben sie es gewußt oder haben sie es nicht gewußt? Weil die Frage für Tomas zweitrangig war, schrieb er seine Überlegungen zu Ödipus eines Tages nieder und schickte sie an die Redaktion des Blattes. Einen Monat später erhielt er eine Antwort. Man bat ihn, in der Redaktion vorbeizukommen. Als er eintrat, wurde er von einem untersetzten Redakteur begrüßt, der kerzengerade dastand und ihm vorschlug, in einem Satz die Wortstellung zu ändern.
    Der Text erschien dann tatsächlich auf der vorletzten Seite in der Rubrik Leserbriefe.
    Tomas war keineswegs erfreut darüber. Da hatte man es für nötig befunden, ihn wegen seiner Einwilligung zu einer Änderung im Satzbau in die Redaktion zu zitieren, um dann den Text stark zu kürzen, ohne ihn zu fragen, so daß seine Überlegungen auf eine (etwas zu schematische und aggressive) Grundthese reduziert worden waren und ihm nicht mehr gefielen.
    Das war im Frühling 1968. Alexandr Dubcek war damals an der Macht, zusammen mit Kommunisten, die sich schuldig fühlten und willens waren, diese Schuld wiedergutzumachen. Die anderen Kommunisten aber, die schrien, sie seien unschuldig, hatten Angst, das aufgebrachte Volk könnte sie vor Gericht bringen. Tag für Tag gingen sie zum russischen Botschafter, um sich zu beschweren und ihn um Unterstützung zu bitten. Als Tomas' Brief erschien, schrien sie: So weit ist es gekommen! Man schreibt bereits öffentlich, man sollte uns die Augen ausstechen!
    Zwei oder drei Monate später beschlossen die Russen, daß freie Diskussionen in ihren Provinzen unzulässig seien, und sie besetzten mit ihrer Armee Tomas' Heimatland im Laufe einer einzigen Nacht.
    3.
    Nachdem Tomas von Zürich nach Prag zurückgekehrt war, arbeitete er wieder in demselben Krankenhaus. Aber bald schon ließ sein Chef ihn zu sich kommen.
    »Schließlich und endlich, verehrter Kollege«, sagte er zu ihm, »sind Sie weder Schriftsteller noch Journalist noch der Erretter des Volkes, sondern Arzt und Wissenschaftler. Ich würde sie ungern verlieren und werde alles tun, um Sie hierzubehalten. Aber Sie müssen Ihren Ödipus-Artikel widerrufen. Liegt er Ihnen sehr am Herzen?«
    »Herr Doktor«, sagte Tomas und dachte daran, daß man seinen Text um ein Drittel beschnitten hatte, »an nichts liegt mir weniger als daran.«
    »Sie wissen also, worum es geht«, sagte der Chefarzt.
    Das wußte er allerdings. Zwei Dinge lagen auf der  Waagschale: auf der einen Seite seine Ehre (die verlangte, daß er nichts widerrief, was er einmal geschrieben hatte), auf der anderen Seite das, was er gewöhnlich als Sinn seines Lebens betrachtete (seine Arbeit als Wissenschaftler und Arzt).
    Der Chefarzt fuhr fort: »Diese Aufforderung, öffentlich zu widerrufen, was man früher einmal gesagt hat, ist sehr mittelalterlich. Was heißt überhaupt >widerrufen