Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
ihren Streit schlichtete.
Der hochnäsige Deutsche weigerte sich jedoch, über Scheiße zu sprechen. Stalins Sohn konnte diese Erniedrigung nicht ertragen. Wilde russische Flüche zum Himmel schreiend rannte er gegen die elektrisch geladenen Drähte, die das Lager umzäunten. Er stürzte sich in das Stacheldrahtgeflecht. Sein Körper, der nie mehr den Engländern die Latrinen verschmutzen würde, blieb darin hängen.
Stalins Sohn hat es nicht leicht gehabt. Sein Vater hatte ihn mit einer Frau gezeugt, die er allem Anschein nach später erschießen ließ. So war der junge Stalin also Gottes Sohn (weil sein Vater wie Gott verehrt wurde) und zugleich von diesem verdammt. Die Leute fürchteten ihn doppelt: er konnte ihnen durch seine Macht schaden (er war trotz allem Stalins Sohn), aber auch durch seine Gunst (der Vater konnte den Freund an Stelle des verdammten Sohnes bestrafen).
Verdammung und Privileg, Glück und Unglück: niemand hat am eigenen Leib stärker gefühlt, wie auswechselbar diese Gegensätze sind und was für ein kleiner Schritt zwischen den beiden Polen der menschlichen Existenz liegt.
Gleich zu Beginn des Krieges wurde er von den Deutschen gefangengenommen, und andere Gefangene, Angehörige eines Volkes, das ihm in seiner unverständlichen Verschlossenheit immer von Grund auf unsympathisch gewesen war, beschuldigten ihn, schmutzig zu sein. Er, der auf seinen Schultern das erhabenste aller denkbaren Dramen trug (war er doch Gottes Sohn und zugleich ein gefallener Engel), sollte sich nun verurteilen lassen? Und nicht etwa für würdige (Gott und die Engel betreffende) Dinge, sondern wegen Scheiße? Liegt denn das erhabenste aller Dramen in so schwindelerregender Nähe des Niedrigsten?
Schwindelerregende Nähe? Kann Nähe denn Schwindel hervorrufen?
Ja. Wenn Nordpol und Südpol sich so nahe kommen, daß sie sich berühren, wird die Erde verschwinden und der Mensch sich in einer Leere befinden, die ihn schwindeln macht und zum Fallen verführt.
Wenn Verdammung und Privileg ein und dasselbe sind, wenn es keinen Unterschied zwischen dem Erhabenen und dem Niedrigen gibt, wenn der Sohn Gottes wegen Scheiße verurteilt werden kann, dann verliert die menschliche Existenz ihre Dimensionen und wird unerträglich leicht. Stalins Sohn rennt gegen die elektrisch geladenen Drähte, um seinen Körper daraufzuwerfen wie auf eine Waagschale, die kläglich in die Höhe steigt, emporgehoben durch die unendliche Leichtheit einer Welt, die ihre Dimensionen verloren hat.
Stalins Sohn hat sein Leben für Scheiße hingegeben. Ein Tod für Scheiße ist aber kein sinnloser Tod. Die Deutschen, die ihr Leben geopfert haben, um ihr Reich weiter nach Osten auszudehnen, die Russen, die gestorben sind, damit die Macht ihres Vaterlandes weiter nach Westen reicht, ja, sie alle sind für eine Dummheit gestorben, und ihr Tod war sinnlos, ohne allgemeine Bedeutung. Im Gegensatz dazu war der Tod von Stalins Sohn inmitten der universellen Dummheit des Krieges der einzige metaphysische Tod.
3.
Als ich klein war und mir das für Kinder nacherzählte Alte Testament anschaute, das mit Radierungen von Gustave Dore illustriert war, sah ich den lieben Gott auf einer Wolke sitzen. Er war ein alter Mann, hatte Augen, eine Nase und einen langen Bart, und ich sagte mir, wenn er einen Mund hat, muß er auch essen. Und wenn er ißt, muß er auch Därme haben. Dieser Gedanke jedoch hat mich erschreckt, denn ich fühlte, obwohl ich aus einer eher ungläubigen Familie stammte, daß die Vorstellung von göttlichen Därmen Blasphemie ist.
Ohne jegliche theologische Vorbildung habe ich schon als Kind ganz spontan die Unvereinbarkeit von Scheiße und Gott begriffen und folglich auch die Fragwürdigkeit der Grundthese christlicher Anthropologie, nach der der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Entweder oder: entweder wurde der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen und dann hat Gott Därme, oder aber Gott hat keine Därme und der Mensch gleicht ihm nicht.
Die alten Gnostiker haben das genauso klar gesehen wie ich mit meinen fünf Jahren: um dieses verzwickte Problem endgültig zu lösen, hat Valentin, ein großer Meister der Gnosis im zweiten Jahrhundert, behauptet: »Jesus hat gegessen und getrunken, nicht aber defäkiert.«
Die Scheiße ist ein schwierigeres theologisches Problem als das Böse. Gott hat dem Menschen die Freiheit gegeben, und so kann man annehmen, daß er nicht für die Verbrechen der Menschheit verantwortlich ist. Doch die
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