Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
küssen.
Der Kitsch ist das ästhetische Ideal aller Politiker, aller Parteien und aller politischen Bewegungen.
In einer Gesellschaft, in der verschiedene politische Richtungen nebeneinander existieren, deren Einfluß sich gegenseitig behindert und begrenzt, kann man der Inquisition durch den Kitsch noch entkommen; der einzelne kann seine Originalität wahren, der Künstler unerwartete Werke schaffen. Wo aber eine einzige politische Bewegung alle Macht hat, befinden wir uns im Reich des totalitären Kitsches.
Sage ich totalitär, so bedeutet dies, daß alles, was den Kitsch beeinträchtigen könnte, aus dem Leben verbannt wird: jede Äußerung von Individualismus (jede Abweichung ist Spucke ins Gesicht der lächelnden Brüderlichkeit), jeder Skeptizismus (wer an Kleinigkeiten zu zweifeln beginnt, wird damit enden, das Leben an sich anzuzweifeln), jede Ironie (im Reiche des Kitsches ist alles unbedingt ernst zu nehmen), aber auch die Mutter, die ihre Familie verlassen hat oder der Mann, der die Männer den Frauen vorzieht und so die hochheilige Parole »Liebet und mehret euch« in Frage stellt.
Unter diesem Gesichtspunkt kann man den sogenannten Gulag als Klärgrube betrachten, in die der totalitäre Kitsch seinen Abfall wirft.
Das erste Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg war die Epoche des schrecklichsten stalinistischen Terrors. Damals wurde Teresas Vater wegen einer Lappalie verhaftet und das zehnjährige Mädchen aus der Wohnung gejagt. Sabina war zu der Zeit zwanzig Jahre alt und studierte an der Kunstakademie. Der Professor für Marxismus erklärte ihr und ihren Kommilitonen folgende These der sozialistischen Kunst: Die sowjetische Gesellschaft ist in ihrer Entwicklung so weit fortgeschritten, daß es den Konflikt zwischen Gut und Böse nicht mehr gibt, sondern nur noch den zwischen Gut und Besser. Die Scheiße (das, was grundsätzlich unannehmbar ist) konnte folglich nur »auf der anderen Seite« (z. B. in Amerika) existieren, und nur von dort, also von draußen, als Fremdkörper (z. B. in der Gestalt eines Spions) in die Welt der »Guten und Besseren« eindringen.
Tatsächlich waren die sowjetischen Filme, die gerade in dieser mehr als grausamen Zeit die Kinos aller kommunistischen Länder überschwemmten, von einer unglaublichen Unschuld durchdrungen. Der größte Konflikt, der sich zwischen zwei Russen abspielen konnte, war ein amouröses Mißverständnis: er glaubt, daß sie ihn nicht mehr liebt, und sie glaubt dasselbe von ihm. Am Ende fallen sie sich in die Arme, und Tränen des Glücks stürzen aus ihren Augen.
Die übliche Interpretation dieser Filme lautet heute: sie zeigten ein kommunistisches Ideal, während die kommunistische Wirklichkeit weit schlimmer war.
Sabina lehnte sich gegen eine solche Interpretation auf.
Bei der Vorstellung, die Welt des sowjetischen Kitsches könnte Wirklichkeit werden und sie müßte darin leben, liefen ihr kalte Schauer über den Rücken. Ohne einen Moment zu zögern, gäbe sie dem Leben in einem wirklich kommunistischen Regime den Vorzug, trotz all der Verfolgungen und Schlangen vor den Fleischereien. In einer wirklich kommunistischen Welt kann man leben. In der Welt des Wirklichkeit gewordenen kommunistischen Ideals, in dieser Welt der lächelnden Idioten, mit denen sie nie ein Wort hätte wechseln können, wäre sie binnen einer Woche vor Grauen gestorben.
Es scheint mir, daß das Gefühl, das der sowjetische Kitsch in Sabina hervorrief, dem Entsetzen gleicht, das Teresa im Traum erlebt hatte, als sie mit den nackten Frauen um das Schwimmbecken marschieren und vergnügte Lieder singen mußte. Unter dem Wasserspiegel schwammen Leichen. Teresa konnte weder mit einer der Frauen sprechen noch Fragen stellen. Sie hätte als Antwort nur die nächste Strophe des Liedes gehört. Keiner einzigen konnte sie heimlich zuzwinkern. Sie hätten sie sofort bei dem Mann angezeigt, der in dem Korb über dem Bassin stand, und er hätte sie erschossen.
Teresas Traum enthüllt die wahre Funktion des Kitsches: Der Kitsch ist eine spanische Wand, hinter der sich der Tod verbirgt.
11.
Im Reich des totalitären Kitsches sind die Antworten von vornherein gegeben und schließen jede Frage aus. Daraus geht hervor, daß der eigentliche Gegner des totalitären
Kitsches ein Mensch ist, der Fragen stellt. Die Frage gleicht einem Messer, das die gemalte Leinwand eines Bühnenbildes zerschneidet, damit man sehen kann, was sich dahinter verbirgt. So hatte Sabina Teresa einst den Sinn
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