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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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Verantwortung für die Scheiße trägt einzig und allein derjenige, der den Menschen geschaffen hat.
    4.
    Der heilige Hieronymus hat im vierten Jahrhundert entschieden den Gedanken verworfen, Adam und Eva könnten im Paradies miteinander geschlafen haben.
    Johannes Scottus Eriugena, ein bedeutender Theologe des neunten Jahrhunderts, ließ diese Idee hingegen gelten. Er stellte sich aber vor, daß Adam sein Glied aufrichten konnte, wie man einen Arm oder ein Bein hebt, also wann immer er wollte und wie er wollte. Man sollte hinter dieser Vorstellung jedoch nicht den ewigen Traum des Mannes suchen, der vom Gedanken an die drohende Impotenz besessen ist. Der Gedanke von Scottus Eriugena hat eine andere Bedeutung. Wenn das männliche Glied sich einfach auf Befehl des Gehirns aufrichten kann, so bedeutet dies, daß die Erregung überflüssigerweise existiert.
    Das Glied richtet sich nicht auf, weil man erregt ist, sondern weil man es ihm befiehlt. Was diesem großen Theologen mit dem Paradies unvereinbar schien, war also nicht der Koitus und die damit verbundene Wollust. Unvereinbar mit dem Paradies war die Erregung. Merken wir es uns gut: im Paradies existierte die Wollust, nicht aber die Erregung.
    In der Betrachtung des Scottus Eriugena kann man den Schlüssel zu einer Art theologischer Rechtfertigung (anders gesagt, zu einer Theodizee) der Scheiße finden. Solange der Mensch im Paradies sein durfte, defäkierte er nicht (ähnlich wie Jesus Christus in Valentins Vorstellungen) oder (was wahrscheinlicher ist) die Scheiße wurde nicht als etwas Widerwärtiges angesehen. In dem Moment, da Gott den Menschen aus dem Paradies vertrieb, gab er ihm zu verstehen, wie ekelhaft er war. Der Mensch begann, das, wofür er sich schämte, zu verstecken, und in dem Moment, als er den Schleier lüftete, wurde er von einem grellen Licht geblendet.
    So lernte er im Anschluß an den Ekel die Erregung kennen.
    Ohne die Scheiße (im wörtlichen wie im übertragenen
    Sinne) wäre die sexuelle Liebe nicht so, wie wir sie kennen: begleitet von Herzklopfen und Verblendung der Sinne.
    Im dritten Teil dieses Romans habe ich erzählt, wie Sabina halbnackt und mit der Melone auf dem Kopf neben dem angekleideten Tomas steht. Damals habe ich aber etwas verschwiegen. Während sie sich im Spiegel ansah, verspürte sie eine Erregung, weil sie lächerlich gemacht wurde, und sie stellte sich vor, daß Tomas sie so, mit der Melone auf dem Kopf, aufs Klosett setzen und sie vor ihm ihre Därme entleeren würde. Diese Vorstellung ließ ihr Herz schneller schlagen und verwirrte sie völlig, sie zerrte Tomas auf den Teppich und schrie kurz darauf vor Lust.
    5.
    Der Streit zwischen denen, die behaupten, die Welt sei von Gott erschaffen, und denen, die denken, sie sei von selbst entstanden, beruht auf etwas, das unsere Vernunft und unsere Erfahrung übersteigt. Sehr viel realer ist der Unterschied zwischen denjenigen, die am Sein zweifeln, so wie es dem Menschen gegeben wurde (wie und von wem auch immer), und denen, die vorbehaltlos mit ihm einverstanden sind.
    Hinter allen europäischen Glaubensrichtungen, den religiösen wie den politischen, steht das erste Kapitel der Genesis, aus dem hervorgeht, daß die Welt so erschaffen wurde, wie sie sein sollte, daß das Sein gut und es daher richtig sei, daß der Mensch sich mehre. Nennen wir diesen grundlegenden Glauben das kategorische Einverständnis
    mit dem Sein.
    Wurde noch vor kurzer Zeit das Wort Scheiße in Büchern durch Pünktchen ersetzt, so geschah das nicht aus moralischen Gründen. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Scheiße sei unmoralisch! Die Mißbilligung der Scheiße ist metaphysischer Natur. Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung.
    Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar (dann schließen Sie sich also nicht auf der Toilette ein!) oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen worden.
    Daraus geht hervor, daß das ästhetische Ideal des kategorischen Einverständnisses mit dem Sein eine Welt ist, in der die Scheiße verneint wird und alle so tun, als existierte sie nicht.
    Dieses ästhetische Ideal heißt Kitsch.
    Es ist ein deutsches Wort, das mitten im sentimentalen neunzehnten Jahrhundert entstanden und in alle Sprachen eingegangen ist. Durch häufige Verwendung ist die ursprüngliche metaphysische Bedeutung verwischt worden: Kitsch ist die absolute Verneinung der Scheiße; im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: Kitsch

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