Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
schließt alles aus seinem Blickwinkel aus, was an der menschlichen Existenz im wesentlichen unannehmbar ist.
Sabinas erste innere Auflehnung gegen den Kommunismus war nicht ethischer, sondern ästhetischer Natur. Was sie als abstoßend empfand, war weniger die Häßlichkeit der kommunistischen Welt (die in Kuhställe umgewandelten Schlösser), als die Maske der Schönheit, die sie sich aufgesetzt hatte, anders gesagt, der kommunistische Kitsch. Das Modell für diesen Kitsch ist die Feier des sogenannten Ersten Mai.
Sie hatte Maiumzüge zu einer Zeit miterlebt, als die Leute noch begeistert waren oder zumindest diese Begeisterung beflissen vorspielten. Die Frauen trugen rote, weiße und blaue Blusen und bildeten, von Baikonen und Fenstern aus gesehen, verschiedene Muster: fünfzackige Sterne, Herzen, Buchstaben. Zwischen den einzelnen Abteilungen des Umzugs schritten kleine Orchester, die Marschmusik spielten.
Näherte sich der Umzug der Tribüne, so erstrahlten selbst die gelangweiltesten Gesichter in einem Lächeln, als wollten sie beweisen, daß sie sich gebührend freuten, oder genauer, daß sie gebührend einverstanden waren. Es ging jedoch nicht einfach um das politische Einverständnis mit dem Kommunismus, sondern um das Einverständnis mit dem Sein als solchem. Die Feier des Ersten Mai wurde aus dem tiefen Brunnen des kategorischen Einverständnisses mit dem Sein getränkt. Die ungeschriebene, unausgesprochene Parole des Umzugs lautete nicht »Es lebe der Kommunismus!«, sondern »Es lebe das Leben!«. Die Stärke und die List kommunistischer Politik lagen darin, sich diese Parole zu eigen gemacht zu haben. Gerade diese idiotische Tautologie (»Es lebe das Leben!«) riß auch Menschen mit in den kommunistischen Umzug, denen die Thesen des Kommunismus gleichgültig waren.
7.
Zehn Jahre später (sie lebte schon in Amerika) fuhr sie einmal mit einem amerikanischen Senator, einem Freund von Freunden, in dessen riesigem Wagen. Auf dem Rücksitz drängten sich vier Kinder. Der Senator hielt an; die Kinder stiegen aus und rannten über den weiten Rasen auf das Stadion zu, in dem sich eine Kunsteisbahn befand. Der Senator saß am Steuer, schaute verträumt auf die vier rennenden Gestalten und wandte sich dann an Sabina: »Schauen Sie sich das an!« Er beschrieb mit der Hand einen Kreis, der das Stadion, den Rasen und die Kinder umfaßte: »Das nenne ich Glück.«
In diesen Worten lag nicht nur Freude darüber, daß die Kinder rannten und das Gras wuchs, sondern auch ein Ausdruck des Verständnisses für eine Frau, die aus einem kommunistischen Land kam, wo nach der festen Überzeugung des Senators weder das Gras wächst noch die Kinder rennen.
Sabina jedoch stellte sich gerade in dem Moment vor, dieser Senator stünde auf einer Tribüne irgendeines Platzes in Prag. Auf seinem Gesicht lag nämlich genau dasselbe Lächeln, das kommunistische Staatsmänner von ihrer Tribüne herab auf die Bürger richten, die im Umzug vorbeiziehen und ebenfalls lächeln.
Wie konnte dieser Senator wissen, daß Kinder Glück bedeuteten? Sah er ihnen etwa in die Seele? Und wenn nun, kaum waren sie aus seinem Blickfeld verschwunden, drei von ihnen sich auf das vierte stürzten und es zusammenschlugen?
Der Senator hatte nur ein einziges Argument für seine Behauptung: sein Gefühl. Wenn das Herz spricht, ziemt es sich nicht, daß der Verstand etwas dagegen einwendet. Im Reich des Kitsches herrscht die Diktatur des Herzens.
Das durch den Kitsch hervorgerufene Gefühl muß allerdings so beschaffen sein, daß die Massen es teilen können.
Deshalb kann der Kitsch nicht auf einer ungewöhnlichen Situation beruhen, sondern nur auf den Urbildern, die einem ins Gedächtnis geprägt sind: die undankbare Tochter, der verratene Vater, auf dem Rasen rennende Kinder, die verlassene Heimat, die Erinnerung an die erste Liebe.
Der Kitsch ruft zwei nebeneinander fließende Tränen der Rührung hervor. Die erste Träne besagt: wie schön sind doch auf dem Rasen rennende Kinder!
Die zweite Träne besagt: wie schön ist es doch, gemeinsam mit der ganzen Menschheit beim Anblick von auf dem Rasen rennenden Kindern gerührt zu sein!
Erst diese zweite Träne macht den Kitsch zum Kitsch.
Die Verbrüderung aller Menschen dieser Welt wird nur durch den Kitsch zu begründen sein.
Niemand weiß das besser als die Politiker. Ist ein Fotoapparat in der Nähe, stürzen sie sich sofort auf das erstbeste Kind, um es auf den Arm zu nehmen und auf die Wangen zu
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