Die Ungehorsame Historischer Roman
Fülle von Details, und als sie in der letzten Januarwoche wieder in ihrem Haus in der Hohen Straße eintrafen, stand der Plan so gut wie fest. Leo übernahm es sofort, die notwendigen Schritte zu unternehmen. Leonie besuchte umgehend Camilla und weihte sie in die Planung mit ein. Sie versprach zu helfen, wenn es nötig war. Ihrem Mann hatte sie inzwischen von ihrem vergangenen
Leben erzählt und war auf amüsiertes Interesse statt auf die befürchtete Ablehnung gestoßen. Ursel und Lennard hielten sich an ihr Versprechen, pünktlich und gehorsam zu sein. Sie hatten sie in das Vorhaben eingeweiht, es war ihnen nichts anderes übrig geblieben. Zu viel hatten die Zwillinge schon selbst miterlebt. Sie waren kleinlaut, aber sehr verständig. Eine Woche vor der feierlichen Einweihung der Köln-Bonner Bahnlinie kamen auch Sven und Edith zu ihnen, die das Ereignis in Köln miterleben wollten. Als Leo sie über die neue Situation informierte, verblüffte ihn Sven damit, dass er ihn heftig in die Arme schloss.
»Ich bin glücklich, mein Junge, dass die Maskerade vorbei ist. Ich habe dich schon immer für einen guten Mann gehalten.«
»Obwohl du sehr früh dahintergekommen bist, dass ich nicht Mansel sein konnte?«
»Du warst gut für Leonie. Das reichte mir. Und nun werde ich sicher erfahren, warum das alles so war.«
Sie setzten ihn und Edith also ebenfalls in Kenntnis dessen, was geplant war, und zufrieden rieb sich der alte Mann die Hände.
»Wenn ich von Nutzen sein kann - ein Auge kann ich allemal auf die Kinder halten.«
Der dreizehnte Februar war ein kalter, aber trockener Tag, und Leonie war dankbar für den pelzgefütterten Umhang, den ihr ihre Schwiegereltern ebenfalls noch geschenkt hatten. Der erste offizielle Zug würde an Nachmittag von Bonn aus im Bahnhof am Pantaleons-Tor eintreffen, danach war ein gewaltiges Bankett vorbereitet, zu dem die Direktion der Eisenbahngesellschaft die Honoratioren, die Förderer und Aktionäre und die verdienten Mitarbeiter eingeladen hatte. Mit Girlanden und Fahnen war der Bahnhof geschmückt, eine Militärkapelle stand bereit, um dem Ereignis musikalische Würde zu verleihen, eine Tribüne war errichtet, von Schleifen in den preußischen Farben und grünem Gezweig umgeben, schneidige Gendarmen sorgten dafür, dass die Ehrengäste unbehelligt ihre Plätze erreichen konnten, denn zahllose Zuschauer drückten sich nämlich auf den Straßen herum. An der Stadtmauer und entlang den Gleisen drängten sie Schulter an Schulter voran, um das Dampfross einfahren zu sehen.
Leo hielt Leonie an Ellenbogen und lotste sie durch die Massen. Auch er hatte einen Platz auf der Tribüne, die Kinder hingegen blieben bei Sven und Edith, zu denen sich auch Camilla und ihr Gatte gesellten. Weiter hinten entdeckten sie einige schwarze Uniformen des Lützow’schen Regiments, und Ernst winkte ihnen verhalten zu. Als sie die Tribüne betraten, kam sofort der Oberbergamtsrat von Alfter auf sie zu und nahm Leo mit einer technischen Frage in Beschlag, die der Direktor Camphausen aufgeworfen hatte. Leonie wurde von einem korpulenten Herrn ein wenig zur Seite gedrängt. Und dann schmetterte die Kapelle los, und man sah das qualmende Ungeheuer unter ohrenbetäubendem Pfeifen langsam auf den Schienen in die Bahnhalle rollen. Dampfwirbel fauchten über den Gleisen, Eisenräder kreischten, Hochrufe erschallten, als die Maschine langsam zum Halten kam. An der Lokomotive und an den tannengrünen Wagen flatterten Wimpel, aus den Fenstern winkten Handschuhe aller Farben, ein Aufraunen der Begeisterung wogte durch die Zuschauermassen, als die uniformierten Eisenbahner die Türen öffneten.
Leonie sah gebannt zu, wie vornehme Damen und Herren auf den Perron traten, doch plötzlich vermeinte sie ihren Namen rufen zu hören. Eine halb erstickte Stimme schrie: »Frau Mansel, Leonie, helfen Sie mir!«
Leonie drehte sich nach der Ruferin um und erkannte ihre Nachbarin Selma, die sich irgendwie in einer nicht näher erkennbaren Notlage befand, aber heftig winkte. Sie sah sich nach Leo um, aber der war durch die ganze Aufregung abgelenkt, und der korpulente Aktionär versperrte ihr den Blick auf ihn. Sie zauderte einen Augenblick, dann aber siegte ihre Hilfsbereitschaft. Hier, zwischen all den ehrenwerten Leuten, mitten im Gedränge, konnte ihr wohl nichts passieren, wenn sie einer Nachbarin beistand, die vermutlich nur ihr Strumpfband verloren hatte.
Dachte sie und täuschte sich gründlich.
»Onkel Sven,
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